Redewendungen aus der Bibel

Wenn ein Missstand verharmlost oder eine klärende Auseinandersetzung vermieden wird, um jemand nicht zu nahe zu treten oder die Harmonie zu wahren, versucht man, diese Angelegenheiten sprichwörtlich «mit dem Mantel der Nächstenliebe zuzudecken». 

Nächstenliebe – zugegeben, das klingt zunächst einmal harmlos. Nicht nur harmlos, vielmehr entfaltet der Begriff eine durchschlagende moralische Wirkung. «Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» – so spricht Jesus zu seinen Jüngern, und so schreibt auch der Verfasser des Petrusbriefes, wenn er seiner Gemeinde empfiehlt: «Vor allem haltet fest an der Liebe zueinander, denn die Liebe deckt viele Sünden zu.» (1 Petr 4,8) 

Hier entsteht ein Bild von Liebe, die wärmt, schützt und zudeckt. Im Barock wurde dieses Bild ausgearbeitet und kraftvoll verwendet. Vor meinem geistigen Auge sehe ich stets eine lächelnde Maria mit dem wallenden Königsblau über den Schultern, ein Sinnbild für Liebe und Verzeihen. 

Doch wie kommt es, dass diese Redewendung heute ironisch, sogar zynisch verwendet wird? Das hat mit dem überwältigend positiven «Geschmack» der Nächstenliebe zu tun. Wer sein Handeln an der Nächstenliebe ausrichtet, dessen Absichten sind so über allen Zweifeln erhaben, dass man doch bitteschön über kleine Fehler und Pannen hinwegsehen soll. Und hier wird es schwierig. Denn häufig wird einfach Nächstenliebe als Triebfeder des Handelns proklamiert, um jegliche Rückfragen und Kritik im Keim zu ersticken. Ein solches Verhalten haben wir erlebt, als die ersten Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch kirchliche Vertreter und Vertreterinnen publik wurden. Die klerikale Verteidigung lautete dann so: Mag ja sein, dass solche unschönen Geschichten vorkamen, dass es in der Kirche auch vereinzelt schwarze Schafe gibt, aber hey – das kann doch das überzeitliche, moralische, allen Ansprüchen enthobene Handeln der Kirche nicht in den Schatten stellen! Die hat sich schliesslich «Nächstenliebe» auf die Fahnen geschrieben! 

Der Aufruf im Petrusbrief ist sehr wertvoll – Christinnen und Christen sollen gerade angesichts ihrer begangenen Sünden umso stärker an der Liebe festhalten, Nächstenliebe leben und pflegen. Doch vor Gott rechtfertigen kann sich der Mensch nicht durch sein kalkuliertes Handeln, und schon gar nicht, indem er seine Sünden gegen wohl dosierte oder auch nur vermeintliche Akte der Nächstenliebe aufrechnet. Darauf weist uns ein anderer prominenter biblischer Briefeschreiber hin: Paulus, der weiss, dass Annahme und Verzeihen letztlich nur durch den Glauben und durch Gottes Gnade möglich ist, die gerade die Sünden nicht aufrechnet. 

Ann-Katrin Gässlein, Theologin bei der Cityseelsorge St. Gallen

Ausgabe Nr. 21/2018

Bild: Sarah Stutte

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