Redewendungen aus der Bibel

Im heutigen Sprachgebrauch wird der Begriff «Kainsmal» verwendet, wenn jemand eine Schuld ins Gesicht geschrieben steht, wenn er mit einer Schuld identifiziert wird. Es kann damit aber auch der Stempel gemeint sein, den die Gesellschaft jemandem aufdrückt, indem sie ihn auf etwas festnagelt.

«Adam, wo bist Du?», ruft Gott (Gn 3,9b), als die von der Erde Genommenen sich anmassten, sich zum Herrn über Gut und Böse zu machen. Die Unschuld war verloren, der Garten nicht länger Mutterschoss. «Kain, wo ist dein Bruder Abel?» – «Ich weiss es nicht.» Auf diese Gegenfrage, «Bin ich der Hüter meines Bruders?» (Gn 4,9), wäre sie denn echt, gäbe es nur eine Antwort. Wer nicht weiss, wo der Bruder, die Schwester ist, kann nicht wissen, wo er selbst ist. Wer die Anderen aus dem Herzen verliert, verliert sich selbst, verliert das Paradies, die Blumen und Bäume, die Tiere und das Du. «Adam, wo bist du?» Niemand kann die Antwort allein geben. Der den Bruder aus Eifersucht getötet hat, hört ihn nicht mehr, sieht ihn nicht mehr und möchte nicht an ihn erinnert werden. Aber da ist noch eine Stimme: «Kain, wo ist dein Bruder Abel?» – Die Frage ist dem Menschen gestellt. Jedem und auf immer. «Auf die einzige Frage, auf die es ankommt», gibt es im Gedicht «Abel steh auf» der jüdisch-deutschen Dichterin, die ihren Fluchtort im Namen trägt, Hilde Domin, nur eine Antwort, «damit es anders anfängt zwischen uns allen»: «Ich bin dein Hüter, Bruder, wie sollte ich nicht dein Hüter sein.»

«Ich bin, der ich bin da» (Ex 3,14). So ist sein Name; die Stimme dort, wo das Menschliche ausgetrocknet und es lichterloh brennt. – Dem Mörder, der sein «Angesicht verbergen» will, «rastlos und ruhelos auf der Erde» und seines Lebens nicht mehr sicher ist, dem macht der Herr «ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn fände» (Gn 4, 14-15).

Das Kainsmal ist keine Bezeichnung des Täters. Kein Stempel, der einem aufgedrückt wird. Keine Bezeichnung des Sündenbocks, den man in die Wüste treibt oder in ein Lager schickt, wo er auf seine Abschiebung wartet. Keine Warnung. Nichts, was zum Ehrenmord auffordert. Das biblische Kainsmal ist die Aufhebung der Rache, der Heimzahlung. Es ist eine Weisung: Der Täter soll nicht Opfer werden. «Ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn fände.»

Im Zeichen einer Hinrichtung, dessen Opfer aufgehoben wurde von einem, der da ist, wo wir sind, bezeichnen wir uns: «Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes». Damit wir nie vergessen: «Ich bin deine Hüterin, Schwester, wie sollte ich nicht deine Hüterin sein.» «Ich bin dein Hüter, Bruder, wie sollte ich nicht dein Hüter, sein.»

Christine Rammensee, Theologin

Ausgabe Nr. 16/2018

Bild: Alina Martin

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