Warum Kino für Regisseur Wim Wenders eine Kirche ist

Er war der Ehrengast am diesjährigen Filmfestival in Zürich und wurde dort mit einer Retrospektive seiner Filme und einem Preis für sein Lebenswerk geehrt. Im Interview sprach er über seine Erfahrungen mit dem Papst, über den er einen Dokumentarfilm drehte und darüber, was wirklich wichtig ist im Leben. 

Woran arbeiten Sie gerade? 

An einem Dokumentarfilm über den Basler Architekten Peter Zumthor, seine Arbeit, seine Werke und seine Methode. Ein langfristiges Projekt, das einige Jahre in Anspruch nehmen wird. In der Zeit dazwischen werde ich mich vermutlich noch anderen Filmen widmen.

Resultiert Ihr Wechselspiel zwischen Dokumentar- und Spielfilmen aus der bestimmten Absicht heraus, das Gleichgewicht zu halten?

Eher aus einem Gefühl der Erschöpfung. Die Arbeit an Dokumentarfilmen bedeutet für mich mehr Frieden und gleichzeitig das Gefühl von Abenteuer. Die Spielfilm-Landschaft ist viel berechenbarer geworden als mir lieb ist. Ich konzentriere mich auf Filme, in denen ich die Richtung des Films ändern kann. Filme, die ohne Drehbuch auskommen oder mit sehr wenig Drehbuch. Es ist heute fast unmöglich, auf diese Art Geschichten zu erzählen. Es ist fast unmöglich, zu sagen, ich möchte einen Film machen, aber ich weiss nicht, wohin er mich tragen wird. Spielfilme kann man so nicht realisieren. Dokumentationen sind dagegen viel weniger kontrollierbar. Sie tauchen in ihre ganz eigene Welt ein.

Sie wollten in jungen Jahren Priester werden. Warum ist daraus nichts geworden?

Dieser Berufswunsch verflüchtigte sich sehr abrupt mit der Ankunft des Rock 'n' Roll in meinem Leben. Die Musik war eine grosse Verlockung und ich gab ihr nach. Es waren die frühen 60er mit den Beatles, mit Bob Dylan – das war meine Generation, nach dem gleichnamigen Song von The Who. Und meine Generation bestimmte für sich neu, was sie wollte und so machte ich das auch. Aber ich bin kein Atheist geworden. Zwar habe ich die katholische Kirche 1968 als Soziologie-Student verlassen. Ich trat aber in den späten 80ern durch die andere Tür des Christentums wieder ein und konvertierte zum Protestantismus.

Und warum? 

Weil ich an Gott glaube. Ich glaube nicht an die Kirche. Ich fühle mich als ökumenischer Christ. Organisierte Religion bringt viele Probleme mit sich und hält viele Menschen davon ab, mit Gott in Verbindung zu treten.

Glauben Sie daran, dass Kino eine Kirche ist? 

Kino hat viele Funktionen und ist ein mächtiges Instrument. Es kann auch, wie vieles andere, eine Kirche sein. Und in der Vergangenheit war es das oft. Einige der Filmemacher, die ich bewundere, machten sehr spirituelles Kino. Regisseure wie der Däne Carl Theodor Dryer, der Franzose Robert Bresson oder der sowjetische Regisseur Andrei Arsenjewitsch Tarkowski. Filme können heute alles sein und über alles reden. Das sollten sie auch. Sie sollten über das reden, was geschieht und was uns etwas angeht. Ich bin sehr betrübt darüber, dass die Definition des Kinos auf eine seltsame Art jetzt begrenzter ist als jemals zuvor. Sie wird immer mehr auf Unterhaltung reduziert. Unterhaltung ist sicherlich eine wichtige Funktion des Films, aber nicht die einzige. Filme können viel mehr sein als das. Sie können uns erzählen, dass wir bessere Menschen sein können und sie zeigen uns manchmal auch eine bessere Welt. Oder zumindest die Möglichkeit, dass wir die Freiheit haben, uns eine bessere Welt vorzustellen. Dokumentarfilme bergen in sich die Idee, dass wir die Welt verändern können. Spielfilme bestätigen jedoch meist ein festgeschriebenes Bild von der Welt, an dem nicht zu rütteln ist. Das kann ich so nicht unterschreiben.

Für Ihren Film über den Papst haben Sie ihn über einen Monitor acht Stunden lang interviewt. Was war Ihr persönlicher Eindruck von ihm? 

Dass er zu allen spricht. Er adressiert seine Botschaften nicht ausschliesslich an Katholiken oder Christen. Er hört sich nicht radikal an, sondern ist ruhig und freundlich. Ich glaube, dass Papst Franziskus nicht die Kirche repräsentiert, sondern Menschen, die guten Willens sind. Er versucht Frieden zwischen den Religionen wachsen zu lassen, weil es zuletzt nicht viel Frieden zwischen den Religionen gab. Das ist eine enorme Aufgabe, der er sich versucht zu stellen. Der Papst geht überall dorthin, wo es weh tut und das ist mutig.

Wie hat das Treffen mit dem Papst Ihren eigenen Glauben beeinflusst? 

Es hat meine Einstellung geändert, weil ich realisiert habe, dass dieser Mensch keine Angst hat. Er hat nicht nur Mut, er ist wirklich furchtlos. Ich habe gemerkt, dass einige meiner Filme von Angst getrieben waren. Er hat mich gelehrt, furchtloser zu sein.

Was sagen Sie zur Kritik an Papst Franziskus? Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Film einen neuen kirchlichen Dialog öffnen konnte?

Papst Franziskus ist ein Mann von unglaublicher Offenheit. Ich denke, er meint Null- Toleranz, wenn er über Pädophilie spricht. Er will diese starre Organisation in etwas Transparentes umformen. Ein grosser Teil der Kirche ist gegen Transparenz und gegen die Öffnung. Viele seiner Kritiker sind Menschen, die seine Politik schon vorher nicht mochten. Ich denke, wir erleben derzeit einen grossen Kampf. Einen Kampf von Menschen, die nicht die Kirche wollen, die der jetzige Papst repräsentiert. Die Offenheit und Zärtlichkeit, für die er steht. Er hält an seiner Meinung fest, aber es ist sehr schwierig für ihn gegen die konservativen Kräfte in seinen eigenen Reihen einerseits zu kämpfen und auf der anderen Seite gegen die ganze sogenannte liberale Welt.

Wie kraftvoll ist die Botschaft des Papstes in unserem digitalen, schnelllebigen Zeitalter? Kann sie uns wirklich erreichen? 

Einer seiner Hauptbotschaften ist die Nähe zu den Menschen, das Zuhören und in Kontakt sein. Es ist eine sehr schlimme Krankheit unserer Zeit, dass Nähe zu einem grossen Luxus wird. Eines der grossartigsten Dinge, die der Papst im ganzen Interview gesagt hat, war etwas sehr Kleines. Wenn er einer jungen Mutter oder einem jungen Vater die Beichte abnimmt, fragt er sie, ob sie genug Zeit mit ihren Kindern «verschwenden». Das ist eine der grossen kulturellen und sozialen Fragen unserer Zeit. Ich selbst bin Grossvater und das bin ich gerne. Doch viele junge Eltern geben ihre Kinder in Tageskrippen ab. Sie verpassen es, ihre Kinder am Morgen und am Abend zu sehen. Der Prozentsatz der Eltern, die wirklich mit ihren Kindern Zeit «verschwenden », wird immer kleiner und kleiner. Das ist, zu einem nicht unwesentlichen Teil, der digitalen Lawine geschuldet, die uns täglich begräbt. Woraus resultiert, dass wir so überladen sind mit Informationen und immer so viele Dinge gleichzeitig zu tun haben. Doch unsere digitale Abhängigkeit isoliert uns und lässt Nähe verschwinden. Das Bedürfnis, Menschen kennenzulernen, Zeit mit ihnen zu verbringen, verschwindet. Ich kenne so viele junge Menschen, die keinen Respekt mehr vor eigenen Erfahrungen haben. Sie vertrauen lieber den Erfahrungen der anderen. Sie wissen nichts vom Leben, nur von Wikipedia. Ich weiss nicht, ob der Papst daran etwas ändern kann. Doch darin liegt die grosse Herausforderung unserer Zeit, die Dinge und Menschen um uns herum wieder wahrzunehmen.

Suchen Sie in Ihren eigenen Filmen nach Antworten oder nach noch mehr Fragen?

Jeder meiner Filme ist am Anfang eine Frage. Und ob ich Antworten finde oder die Frage bleibt, ist Teil des Prozesses. Manchmal wirft eine Entwicklung neue Fragen auf und manchmal findet man eine Antwort. Ich denke, man muss dabei auf eine Art und Weise suchen, so dass ein Publikum bereit ist, dir 90 Minuten lang folgen zu können und bei dir zu bleiben. Kinobesucher sind heute so sehr an direktes Erzählen gewohnt und daran, an die Hand genommen zu werden. Doch das nimmt die Luft zum Atmen. Die Filme, die ich liebe, lassen mehr Raum zwischen den Bildern und den Dialogen, so dass man sich selbst hineinträumen kann. In viele Filme kannst du dich heute nicht mehr hineinträumen, sie schreiben dir deine Art zu träumen vor. Ich mag die Idee eines Kinos, das offen ist und den Betrachter seinen eigenen Film im Kopf entstehen lässt. Der Film existiert nur dort und ist jedes Mal ein anderer. Leonard Cohen singt in seinem Lied «Anthem», dass es in allen Dingen einen Riss gibt und dadurch das Licht scheint. Es ist eine wunderschöne Idee des Kinos, dass es dir hilft zu träumen und dich träumen lässt.

Sarah Stutte 
 



Wim Wenders (geb. 1945 in Düsseldorf) hat nicht nur den Neuen Deutschen Film der 1970er-Jahre geprägt, sondern gilt auch als wichtiger Vertreter des gegenwärtigen deutschen Kinos. Nach abgebrochenen Studien in Medizin, Philosophie und Soziologie widmete er sich erst der Aquarellmalerei, bevor er sich mit Film beschäftigte. 1967 wurde er an der neugegründeten Hochschule für Fernsehen und Film in München aufgenommen. 1971 gründete Wenders, zusammen mit fünfzehn anderen Regisseuren und Autoren, den Filmverlag der Autoren. Zu seinen erfolgreichsten Filmen zählen «Paris, Texas» (1983), «Der Himmel über Berlin» (1987), der 3-D Dokumentarfilm «Pina» (2011) und «Das Salz der Erde» (2014). Zuletzt war er mit seinem Film «Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes» im Kino.  

 
 
Wim Wenders auf dem grünen Teppich des Zurich Film Festival.
Bild:ZFF
 
 
 
 
Für seinen Dokumentarfilm über Papst Franziskus sprach Wim Wenders acht Stunden lang mit ihm.
Bild: kath.ch

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