Ein Kreuzweg, der wachrüttelt

Auf ihrer Flucht von Afrika nach Europa sind viele Menschen unsäglichem Leid ausgesetzt, manche bezahlen dieses Wagnis mit ihrem Leben. Der Bildhauer und Graphiker Joachim Sauter vergleicht deren Schicksal mit dem Leiden Jesu. Sein «Kreuzweg der Migranten» ist noch bis 12. Mai im Hotel des Klosters Hegne, bei Allensbach/D, ausgestellt.

Schon im Eingangsbereich des Hotels St. Elisabeth empfangen einen die ersten Bilder mit ihren erdfarbenen Gelb- und Brauntönen. Sie führen den aufmerksam gewordenen Betrachter am Speisesaal vorbei in die Kapelle. Auch ohne die Bildtitel zu lesen, wird einem schnell klar, dass es in dieser Ausstellung um Flucht und Gewalt geht: ein wehrloser Mann mit erhobenen Händen, – einer, der sich mit seinen Habseligkeiten auf den Weg macht, – einer, der sich in einem Versteck zusammenkauert, die Hand vor dem Gesicht, – einer, der vor einem Soldaten mit angelegtem Gewehr kniet… Und gleichzeitig begegnen einem vertraute Motive aus einem Kreuzweg: ein Mann umarmt eine gebeugte Frau, seine Mutter, – ein Mann unter weinenden, verzweifelten Frauen, – ein Hingerichteter auf Schiffsplanken in Kreuzform, – ein Toter im Sarg. Die 15 quadratischen Bilder zeigen die Odyssee eines Migranten aus Afrika nach Lampedusa. «Seine leidvollen Erlebnisse liessen sich gut auf die klassischen Stationen eines Kreuzweges transformieren», sagt Joachim Sauter.

Eine Idee mit Potential

Auf die Idee dieser Verbindung kam der in Stuttgart lebende Künstler in der Zeit der grossen Flüchtlingskrise in Europa. Damals hatte er den Auftrag, einen Kreuzweg für eine Kirche in Freudenstadt (D) zu konzipieren. Als Grundlage für seine ersten Entwürfe diente ihm das Buch des Journalisten Fabrizio Gatti «Bilal: Als Illegaler auf dem Weg nach Europa». «Gatti beschreibt ziemlich detailgenau die Strapazen und Gefahren auf der sogenannten Sklavenroute von Mali zur lybischen Küste», sagt Sauter. Der Bericht über Frauen, die in Mali stranden, weil sie kein Geld mehr haben, und sich prostituieren müssen, erinnerte ihn an die Kreuzwegstation «Jesus begegnet den weinenden Frauen».

Leider fanden seine Entwürfe keine Zustimmung. Die Auftraggeber befürchteten, dass ein solcher Kreuzweg in ein paar Jahren seine Aktualität verlieren könnte. Für den Künstler war klar: «Dieses Thema kann ich nicht einfach versanden lassen. Ich muss etwas daraus machen.» Und so entschloss er sich, aus den ersten Skizzen eine vergrösserte Version herzustellen.

Die Gruppe der Steinträger

Joachim Sauter interessieren die Menschen, ihre Eigenheiten, ihre Lebensbedingungen, ihr Alltag und wie sie ihn meistern. Die einfache Darstellung einer biblischen Geschichte wäre ihm zu «blutleer». Es muss für ihn ein Bezug zum Hier und Jetzt bestehen, zur konkreten menschlichen Existenz. Dies motivierte ihn auch, 2012 ein Kunstprojekt auf der kenianischen Insel Lamu zu beginnen. Dort hatte er beobachtet, wie Einheimische riesige Steine aus einem Steinbruch zu Segelbooten an den Strand trugen. «Das ist die Hölle», dachte er sich. Gleichzeitig war er fasziniert von der Ästhetik dieses anstrengenden Balanceakts. Es reifte in ihm der Plan, von den Schwerstarbeitern lebensgrosse Holzskulpturen zu fertigen. Er gewann Einheimische, die ihm dazu Modell standen, und schuf so eine Gruppe von sieben Steinträgern, ergänzt durch eine Frau. Die Erfahrungen, die er auf der Insel Lamu machte, inspirierten ihn schliesslich auch zu seinem Kreuzweg und flossen in dessen Gestaltung ein. Für ihn sind die Steinträger im gewissen Sinn auch «Kreuzträger». «Die Menschen müssen sehr hart arbeiten und von etwa fünf Franken am Tag leben», erklärt Sauter. Deshalb ist auch einer der Steinträger, eine in Bronze gegossene Kopie, bei der Ausstellung in Hegne zu sehen.

Ein Stück Hoffnung

Der Kreuzweg war ursprünglich – wie viele seiner Art – mit 14 Stationen geplant. Er endete mit der Grablegung des Migranten. «So konnte ich den Leidensweg aber nicht abschliessen», sagt Joachim Sauter. Er fügte seinem Werk eine 15. Station hinzu, die «man als Emmaus-Szene bezeichnen kann»: Drei Menschen sitzen in einer Flüchtlingsunterkunft zusammen und teilen miteinander Brot. Zu dieser Szene fiel ihm eine Stelle aus Anna Seghers Roman Transit ein, die auf den zweiten Korintherbrief (2 Kor 11,25 f) anspielt: «Dreimal bin ich geschlagen worden, dreimal gesteinigt, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht zugebracht in der Tiefe des Meeres, in Gefahr gewesen durch Flüsse, Gefahr in den Städten, Gefahr in der Wüste, Gefahr auf dem Meere». Diese Worte, die das Bild ergänzen, haben bis heute nichts an Aktualität eingebüsst. Die 15. Station, so Joachim Sauter, könne als Grabinschrift gelesen werden und gebe der Hoffnung Raum, die Flüchtlinge würden ihr Ziel doch noch erreichen.

Nahe an der Wirklichkeit

Der «Kreuzweg der Migranten« wurde 2016 fertiggestellt. Wie sehr seine Bilder die Wirklichkeit widerspiegelten, wurde dem Künstler bewusst, als er sich mit einer befreundeten Journalistin austauschte, die für einen Reportage in Niger entlang einer Flüchtlingsroute unterwegs war. Sie beschrieb Szenen, die in seinem Kreuzweg wiederzufinden sind.

«Ob ein Werk aber wirklich ‹funktioniert›, merkt man erst, wenn es das Atelier verlässt und in der Öffentlichkeit gezeigt wird», weiss Joachim Sauter. In Hegne ist der Kreuzweg erstmals in Verbindung mit der Karwoche und in einem sakralen Raum zu sehen. Für Sauter ist dies stimmig. Hier sind die Bilder für ihn am richtigen Ort, hier können sie in ihrer Aussage gut verstanden werden.

Detlef Kissner (2.4.19)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Joachim Sauter neben seinem bronzenen Steinträger.

 

 

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1. Station: Ein Mann wird in seinem Heimatland mit dem Tod bedroht – Jesus wird zum Tode verurteilt.

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3. Station: Auf seinem Weg rastet der Flüchtende in Verstecken. Verzweiflung macht sich breit – Jesus fällt das erste Mal unter dem Kreuz.

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9. Station: Aus Furcht vor Verhaftung wartet der Flüchtende in Verstecken auf eine Überfahrt – Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz.

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10. Station: Auf den Booten ist man der Willkür der Schleuser ausgeliefert – Jesus wird seinen Kleidern beraubt.

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11. Station: Das Boot gerät in Seenot und kentert. Vergeblich versucht der Flüchtende sich zu retten – Jesus wird ans Kreuz genagelt.

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14. Station: Der tote Migrant wird beerdigt – Der heilige Leichnam wird ins Grab gelegt.

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15. Station: Drei Migranten in einer Unterkunft – ...und als er mit ihnen bei Tisch war... (Emmaus)




Bilder: Detlef Kissner

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