Reliquiare als ästhetische Erfahrung

Bis Mitte August 2026 ist in der Kartause Ittingen die Ausstellung « Reliquien – Objekte der Kontemplation in der Kirche und darüber hinaus » zu sehen. Gezeigt werden Leihgaben von katholischen Pfarrgemeinden des Kantons Thurgau. Im Interview erzählt Dr. Felix Ackermann, Kurator des Ittinger Museums, worum es in der Ausstellung geht.

Felix Ackermann, weshalb haben Sie jetzt eine Ausstellung über Reliquien oder wohl eher Reliquiare gestaltet ? 
Das Thema Reliquien ist untrennbar verbunden mit ihrer Fassung, also den Reliquiaren : Diese unterstreicht die Wert­schätzung, die dem Inhalt entgegen­gebracht wird. Es ist ein Thema, das mich schon länger interessiert. Im Thurgau sind die Voraussetzungen sehr gut. Hätte ich bei jeder Pfarrgemeinde anklopfen müssen, wäre das im Rahmen meiner Möglichkeiten hier im Museum uferlos gewesen. Aber ich konnte auf das Inventar der katholischen Kultgegenstände zugreifen, das von der Denkmalpflege des Kantons Thurgau erstellt worden war. So konnte ich zwei dicke Ordner anschauen und eine erste Auswahl treffen. Auf alle Anfragen habe ich positive Rückmeldungen erhalten ! Es handelt sich um Objekte, die immer weniger im Kult eingesetzt werden. 

Nach welchen Kriterien haben Sie die Ausstellungsexemplare ausgewählt ? 
Ich kann nicht behaupten, dass die Auswahl repräsentativ ist. Ich musste mich beschränken und die Möglichkeiten der Räume und Vitrinen berücksichtigen. Es geht darum, die Gattung vorzustellen und den Kontext zu vermitteln. Zudem wollte ich in zeitlicher und in formaler Hinsicht ein möglichst breites Spektrum zeigen. In einem Raum sind vor allem gleich­förmige Reliquiare zu sehen. Einige von ihnen habe ich so inszeniert, dass sichtbar wird, wie diese Objekte für die symmetrische Aufstellung auf dem Altar bestimmt waren. Der Altar hatte also die Funktion einer Bühne, je nach Festtag wurde so das Erscheinungs­bild verändert. Reliquiare sind nicht immer sichtbare Objekte, sondern sie werden und wurden zu bestimmten Anlässen hervorgeholt. Das geht bei uns in der kirchlichen Praxis allmählich verloren. Italien, Spanien und Portugal haben diesbezüglich eine andere Entwicklung. Die Präsentation von Reliquien ist auch unabhängig vom Inhalt eine sinnliche, ästhetische Erfahrung und historisch betrachtet ein wesentlicher Bestandteil des kirchlichen Kults.

Was ist die Funktion von Reliquien ? 
Da muss man zurückgehen in die Zeit, als die christliche Kirche im Römischen Reich allmählich zur Staatsreligion wurde : ins Römische Reich des 4. Jahrhunderts n. Chr., beim Übergang von der blossen Duldung zur aktiven Förderung unter Kaiser Konstantin. Dies fand besonders in der Kirchenbaupolitik anschaulichen Ausdruck. Es gibt in Rom sieben Hauptkirchen. Genau eine geht nicht auf die konstantinische Zeit zurück : Santa Maria Maggiore. Sie entstand im 5. Jahrhundert im Auftrag des römischen Bischofs. 
Der Kult der Martyrer spielt eine zentrale Rolle. Denn Heiligenkult war zunächst ausschliesslich Martyrerkult : Der Altar der konstantinischen Petersbasilika wurde mit grossem Aufwand über dem vermuteten Grab des Apostels Petrus platziert. Die letzte Phase der Christenverfolgung war den Zeitgenossen noch in Erinnerung : Kaiser Konstantin hat 312 n. Chr. seinen Gegner Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke der Legende nach mit Hilfe von Christus besiegt und ein Jahr später Religionsfreiheit gewährt. Die Kirchen San Sebastiano und San Lorenzo gehen zurück auf zwei Prototypen von Martyrern : auf den Soldaten (San Sebastiano) und den Kleriker (San Lorenzo). Die Gräber der Martyrer wurden zu Kultstätten. 
Die Gräber wurden zunächst an ihrem Ort belassen. Erst später wurden Gebeine gehoben und translatiert – das bedeutet, an einen anderen Ort überführt. Bischof Ambrosius von Mailand (339 / 40–397) hat dies wohl zum ersten Mal veranlasst : Nach dem Auffinden der Gebeine der Märtyrer Gervasius und Protasius (386 n. Chr.) liess er sie nach Mailand überführen und unter einem Altar bestatten. Der Altar wurde somit nicht über einem bestehenden Grab errichtet, sondern er wurde durch die Reliquien zum Grab. Bis heute ist das Einbringen von Reliquien in die Altarplatte Teil des Weiherituals von neuen Altären.

Was alles können Reliquien sein ?
Vom Ursprung her Gebeine. Dann hat Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, im Heiligen Land Christi Kreuz und Schweiss­tuch gefunden sowie die Lanze des Longinus und einen Nagel von Christi Kreuz. Reliquien sind somit auch Objekte, die mit Heiligen im Zusammenhang stehen. 

Haben sich Reliquiare über die Jahr­hunderte ausgeformt respektive gibt es typische Beispiele für gewisse Zeiten ?
Bis ins Hochmittelalter werden Reliquien zwar prominent aufgestellt, aber nicht direkt sichtbar gemacht. Die Bedeutung, die man den Reliquien zumass, fand Ausdruck in der Gestaltung der Behält­nisse. Ein berühmtes Reliquiar ist der Dreikönigs­schrein im Kölner Dom, ein in seiner Art einzigartiges Kunstwerk hochmittelalterlicher Goldschmiedekunst. Seine Form steht im Zusammenhang mit dem Brauch, Sarkophage von Heiligen auf Säulen hinter dem Altar aufzustellen. Vielfach entstanden auch kleine Reliquiare in Schreinform. In ihrem Innern waren die Reliquien oft in kostbare Stoffe eingewickelt, die heute sehr wertvoll für die Textilforschung sind.
Erst im Spätmittelalter entstanden Reliquiare, die ihren Inhalt sichtbar präsentier­ten. Beispiels­weise in den gläsernen Schau­gefässen von Reliquien­monstranzen, deren Form von der Hostien­monstranz abgeleitet wurde.

Wissen Sie etwas über die Herkunft der Ausstellungsobjekte ?
In vielen Fällen könnte die Geschichte einzelner gezeigter Reliquien durch Forschun­gen in den Pfarreiarchiven erhellt werden. Der Aufwand dafür lag jedoch weit jenseits der Möglich­keiten meines Pensums hier im Museum. Exempla­risch wird jedoch die Translation des Katakomben­heiligen Benedictus von Hagenwil vorgestellt, der in der Ausstellung gezeigt wird. Die Gebeine wurden einer Katakombe entnommen und 1770 in Rom einem Mönch des Klosters St. Gallen übergeben. Dort wurde das Skelett prächtig eingekleidet und im Jahr 1772 in einer aufwendigen Prozession nach Hagenwil überführt. Was steckt dahinter ? Die gezielte Förderung der Volksfrömmigkeit durch den Herrscher, den Fürstabt von St. Gallen, denn ein ganzer Leib hat eine ganz andere Präsenz als ein Knöchelchen.

Ist etwas bekannt über Reliquien­fälschungen ?
Man kann davon ausgehen, dass es bewusste Kreationen von Reliquien gegeben hat. Es ist jedoch zu berück­sichtigen, dass die Präsenz von bestimmten Reliquien auf das Wirken von Wundern zurückgeführt wird. Parade­beispiel : Santiago de Compostela und Jakobus. Da wird eine Legende geschaffen, dass Jakobus in Spanien gewirkt habe. Die lokale Kirche wird so auf eine biblische Figur zurückgeführt. Im 17. Jahrhundert wurde im Zusammenhang mit der Überarbeitung liturgischer Bücher der Aufenthalt von Jakobus in Spanien infrage gestellt, was massive Proteste des spanischen Königs zur Folge hatte. Gemäss der Legende wurde Jakobus' Leichnam in Palästina in ein Schiff gelegt, überquerte das Mittelmeer, passierte die Meerenge von Gibraltar und landete im nordwestlichen Spanien. Das ist rational natürlich nicht erklärbar. Die Präsenz der Reliquien wird als grosses Wunder betrachtet, und Zweifeln daran wird auch mit politischem Druck begegnet.

Ging es denn wirklich immer nur um die Heilserwartungen oder eventuell auch darum, ein Wallfahrtsort zu werden ? 
Natürlich konnte man mit Pilgern Ein­nahmen generieren, und dieser Faktor spielte zweifellos bei der Förderung etlicher Reliquienkulte eine Rolle. Es gibt auch den Faktor Reliquie als Kriegsbeute. So hat Friedrich Barbarossa bei der Einnahme von Mailand die bereits erwähnten Reliquien der heiligen drei Könige beschlagnahmt und dem Kölner Erzbischof, Kanzler Rainald von Dassel, geschenkt. Der vielleicht grösste Raubzug des Hochmittelalters war der Vierte Kreuzzug, der im Jahr 1204 in der Eroberung und Plünderung von Konstantinopel vor allem durch Franzosen und Venetianer gipfelte. Seit der Antike war die Stadt nie geplündert worden, weshalb sich viele Reichtümer angehäuft hatten, auch prominente Reliquien. Die vier Bronze­pferde des Markusdoms in Venedig sind beispielsweise solche Beutestücke, aber auch die Dornenkrone, die heute in der Notre-Dame in Paris verwahrt wird. 

Welche Bedeutung haben Reliquien und ihre Reliquiare heute noch ?
Auch wenn die Bedeutung schwindet : Ich habe für die Ausstellung bewusst auch moderne Beispiele für Reliquiare gewählt. Ich schätze, es gibt etwa 20 Bruder-Klaus-Reliquiare im Thurgau. Vier habe ich aufgereiht. Sie sind interessant, da Bruder Klaus eine längst populäre Person war, die spät kanonisiert wurde, erst 1947. Darauf wurden zahlreiche neue Bruder-Klaus-Reliquiare geschaffen. Es wurden winzige Partikel entnommen und weit verteilt. Ein formal besonders herausragendes Beispiel stammt aus Diessenhofen und wurde von Willi Buck gestaltet, einem Goldschmied aus Wil. Sein Reliquiar ist ein Kubus auf vier Säulen. Damit spielt er auf die Tradition an.
Von zwei Beispielen in der Ausstellung weiss ich, dass sie im Kult bis heute eine Rolle spielen. So wird das Reliquiar des heiligen Pelagius von Bischofszell an seinem Festtag noch immer präsentiert. Und noch immer wird der Katakomben­heilige Benedictus am ersten Sonntag im September aus dem Schrein im Chorraum der Kirche Hagenwil genommen und in der Kirche aufgestellt. Bis vor wenigen Jahren wurde er noch von vier als römische Soldaten gekleideten Männern durchs Dorf getragen.

Sie zeigen auch profane Reliquien. Weshalb ?
Auch in religionskritischen Kreisen wurden Erinnerungsstücke an herausragende Persönlichkeiten ehrfurchtsvoll verwahrt, etwa in Form von Haarlocken. Hier kann man sehr direkt von profanen Reliquien sprechen.
Hinzu kommt der Aspekt persönlichen Gedenkens. So wurde die Verarbeitung von Haaren Verstorbener zur speziellen Form des Andenkens, die von verschiedenen Frauenklöstern gepflegt wurde. In der Aus­stellung ist ein Armband aus gefloch­tenen Haaren mit Silberschliesse zu sehen, das im frühen 20. Jahrhundert in St. Gallen entstanden ist. Wir zeigen aber auch persönliche Erinnerungsstücke wie beispielsweise das Halsband eines verstorbenen Hundes, das der Besitzer um eine Kerze gelegt hat, die er gelegent­lich zum Gedenken an das geliebte Tier anzündet. Hat nicht jedermann irgendwo solche besonders geschätzte und entsprechend verwahrte Objekte ? Der Gedanke daran kann uns davor bewahren, dem katholischen Reliquienkult mit Verächtlichkeit zu begegnen.

Was ist Ihre persönliche Verbindung zu Reliquien ? 
Es ist für mich eine Beschäftigung mit einem vielschichtigen historischen Phänomen. Ich durfte dank grosszügiger Stipendien fünf Jahre lang in Rom leben und über Altararchitektur dissertieren. Die Beschäftigung mit dem Rahmen des katholischen Kults ist daher schon seit langer Zeit ein wesentlicher Aspekt meiner Tätigkeit als Kunsthistoriker. Gian Lorenzo Berninis riesige Altaranlage am Ende der Längsachse der Peterskirche ist nichts anderes als ein monumentales Reliquiar.
Im Rahmen meiner Tätigkeit im Ittinger Museum habe ich es als Chance gesehen, als kantonale Institution ein grosses Thema exklusiv mit thurgauischen Exponaten zu vergegenwärtigen.

Interview : Béatrice Eigenmann, forumKirche, 24.11.2025

Reliquiar des Katakombenheiligen Benedictus von Hagenwil
Quelle: Béatrice Eigenmann
Die Gebeine des Katakombenheiligen Benedictus von Hagenwil wurden von 1770–1772 n. Chr. in St. Gallen gefasst. Handschuhe und Federschmuck sind spätere Ergänzungen.

 

 

Gleichförmige Reliquiare
Quelle: Béatrice Eigenmann
Gleichförmige Reliquiare als sinnliche, ästhetische Erfahrung: Vier Reliquiare aus der ersten Hälfte des 17. Jhd. aus der Pfarrei Ermatingen, umrahmt von zwei Tafelreliquiaren (ganz links und rechts) sowie zwei Reliquiaren um 1800 aus der Pfarrei Homburg.

 

 

Reliquiare für Bruder Klaus und den heiligen Otmar
Quelle: Béatrice Eigenmann
Goldschmied Willi Buck aus Wil hat diese zwei Reliquiare für Bruder Klaus und den heiligen Otmar im Jahr 1970 für die katholische Kirche Diessenhofen gefertigt. Sie lehnen sich an die mittel­alter­liche Tradition der Aufstellung von Heiligenschreinen auf vier Säulen an.

 

 

Profane Reliquie aus dem frühen 20. Jahrhundert
Quelle: Béatrice Eigenmann
Profane Reliquie aus dem frühen 20. Jahrhundert: Die Haare der verstorbenen Ur-Urgrossmutter der heutigen Besitzerin wurden zu einem Armband geflochten.

 

 

Dr. Felix Ackermann, Kurator des Ittinger Museums
Quelle: Mirjam Wanner
Dr. Felix Ackermann, Kurator des Ittinger Museums

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