Das Auferstehungsfenster von Ferdinand Gehr

Ferdinand Gehr hat in der katholischen Kirche Sulgen für die damalige Zeit ungewöhnliche Glasfenster geschaffen. Der Künstler war sehr bekannt, aber teilweise heftig umstritten: Sulgen traute sich etwas! Heute sprechen uns die Fenster direkt an, der Skandal ist verraucht. Auch theologisch gibt es einiges zu entdecken. 

Wuchtig liegt die Kirche St. Peter und Paul in Sulgen oben auf dem Berg. Sie hat etwas von einer Burg. Viel Sichtbeton, der aber alles Schwere verliert, wenn man die Kirche betritt. Sie ist einem grossen Zelt nachempfunden und dämmerig. Die relativ kleinen Fenster lassen Farbbänder entstehen. Die Farbfenster sind schlicht, kraftvoll, eingängig, aufs Wesentliche reduziert. 
Ein Fenster zeigt Maria Magdalena und den auferstandenen Jesus. Es ist ein stilles, intimes Bild. Sie trägt ein kräftig grünes Kleid. Er ist in Gelb und Weiss gekleidet, in lichtvolle Farben. Die Gestalt ist von einem ockerfarbenen Oval umfangen als Zeichen für das Heilige. Seine braunen Beine stehen auf der Erde. Die beiden Gestalten sind intensiv im Leben verankert - nur ein kleiner Teil des Fensters ist blau, dem Himmel zugeordnet.

«Berühre mich nicht»
Die Bibel berichtet, wie Magdalena unvermutet vor dem Auferstandenen steht. Aus der Trauer um den geliebten Herrn wird Verblüffung – er steht vor ihr! Er ist nicht tot?! Sie steht vor Jesus, ihre Hand nähert sich ihm voll Sehnsucht. «Berühre mich nicht», sagt Jesus. Sind seine erhobenen Hände Zeichen der Abwehr? Oder segnen sie Magdalena? Warum bittet er sie, ihn nicht zu berühren? Haben sie sich früher berührt, waren sie sich nahe?
Viele Darstellungen dieser Szene zeigen Maria Magdalena kniend vor Jesus. Hier aber steht sie neben ihm - auf Augenhöhe. Nicht gebeugt, sondern aufrecht. Eine starke Frau. Die Kraft der Heiligkeit umhüllt ihn und sie hat Anteil an dieser Kraft. Das Bild berührt gerade in dieser schweren Zeit. Die vielen Flüchtlinge, oft Frauen und ihre Kinder, die in Verzweiflung und Not zu uns kommen. Corona ist nicht vorbei. Viele Menschen kämpfen mit seelischen und körperlichen Krankheiten und finanziellen Nöten, sind von Sorgen bedrückt. 

Neuer Anfang
Dieses Bild ist eine stille Ermutigung: Jesus steht neben uns, ist uns unvermutet in der Trauer nahe. Wir müssen uns nicht klein machen vor ihm, uns «vernütigen», wir dürfen unsere Not herausschreien – er begegnet uns auf Augenhöhe. Wie Magdalena. Wir müssen auch andere nicht klein machen und ihnen und uns ewige Dankbarkeit abverlangen. Ferdinand Gehr zeigt Magdalena nah bei Jesus und aufrecht. Jesus braucht keine demütige Frau, auf die er herabsehen kann. Sie begegnen sich auf Augenhöhe. Dies ist kein Ende, sondern der Anfang einer neuen Zukunft. Wir dürfen dieses Versprechen auch für uns und alle Menschen in Anspruch nehmen. Jesus möchte uns alle aufrecht - Frauen, Männer und Kinder. Frauen hat man lange auf die Knie gezwungen, gerade auch in der Kirche. Gehr stand dagegen. Er hat hier eine theologische Entwicklung vorweggenommen.

Erneuerer, der Widerstand erfuhr
Ferdinand Gehr (1896-1996) wurde im Zweiten Weltkrieg als Künstler bekannt. Zwischen 1950 und 1960 bekam er viele Aufträge für Glasfenster und Wandbilder in Kirchen. Er wurde zum grossen Erneuerer der sakralen Kunst in der Schweiz. Doch er wurde gleichzeitig von konservativen Katholik*innen massiv angegriffen, die seine Ausmalungen der Kirchen von St. Marien (Olten), St. Johannes (Wettingen) und St. Niklaus (Oberwil) heftig ablehnten. Dort musste die Malerei für sechs Jahre hinter einem Vorhang verschwinden. 1954 verweigerte Bischof von Streng die Weihe von St. Anton in Wettingen wegen Gehrs Ausmalung der Apsis. Diese wurde ebenfalls hinter einem Vorhang versteckt und später zerstört. 
Von 1959 bis 1961 schuf Gehr die Kirchenfenster in Sulgen. Es hat die Sulgener wohl einigen Mut gekostet, den bekannten, aber auch so umstrittenen Künstler die Fenster ihrer Kirche gestalten zu lassen! Gehr arbeitete intensiv mit dem Architekten zusammen. Er liess der Kirche ihre wuchtige klare Struktur, die Kirchenfenster sind relativ klein. Das Ganze erinnert etwas an Le Corbusiers Kapelle Notre-Dame-du-Haut von Ronchamp, welche 1950 fertiggestellt wurde.
Gehr studierte meist wochenlang die Bibel, bevor er seine Ideen künstlerisch umsetzte. Seine höchste Maxime war, dass das Wahre wesentlich ist und keiner zusätzlichen Symbole bedarf. Seine Werke spiegeln diesen Glauben wider. Er blieb standhaft bei seinem Weg - auf Augenhöhe mit Jesus.

Christiane Faschon, 27.07.2022
 

Fenster von Ferdinand Gehr
Quelle: Detlef Kissner
Das Fenster von Ferdinand Gehr hält den Moment fest, als Jesus zu Maria Magdalena sagt: «Berühre mich nicht» (Joh 20,17).

 

 

Katholische Kirche von Sulgen
Quelle: Detlef Kissner
Die katholische Kirche von Sulgen mit den Fenstern des Künstlers Ferdinand Gehr wurde 1961 fertiggestellt.

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