Aussenansichten zum Weihnachtsfest

Die Schweizer Gesellschaft wird immer «bunter». Nur noch etwa 60 Prozent der Wohnbevölkerung gehören einer christlichen Glaubensgemeinschaft an. Wie stehen andere Bevölkerungsgruppen zum christlichen Weihnachtsfest? Welche Erfahrungen verbinden sie damit? Wie begehen sie diese Feiertage? forumKirche fragte bei einem Juden, einer Muslima und einem Freidenker nach.

Für Leo Gideon (69) gibt es Weihnachten, solange er denken kann. Der pensionierte Detailhandelsfachmann kommt aus einer jüdischen Familie und wuchs in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Weinfelden auf. Aus Erzählungen weiss er, dass seine Grossmutter früher für die Angestellten einen Weihnachtsbaum aufgestellt hatte. «Unten wurde dann Weihnachten gefeiert, oben bei der Grossmutter Chanukka», erzählt Leo Gideon. Das habe mit der Heirat seiner Eltern dann aber aufgehört. Seine Mutter sei religiös gewesen, führt er als Grund an.
In der Schule durften die drei Söhne nur an manchen adventlichen Veranstaltungen teilnehmen. «Adventskalender waren ein Streitthema. Die gab es zu Hause nicht. Nur eine Laterne von Ovomaltine war erlaubt», erinnert sich Leo Gideon. Dem Vater war es wichtig, dass «nichts Heiliges und nichts Glitzeriges» ins Haus kam. Am 26. Dezember war die Familie immer bei guten Freunden eingeladen. «Dort haben wir miteinander gefeiert, konnten den Christbaum anschauen und haben Geschenke bekommen.»

Drei Könige machten Eindruck
Auch wenn Leo Gideon als Jude in dem Kind von Bethlehem nicht den erwarteten Messias sehen kann, rührt ihn die Weihnachtsgeschichte dennoch. «Als Kind haben mich am meisten die drei Könige beeindruckt, weil sie später gekommen sind und weil sie etwas mitgebracht haben. Den Dreikönigskuchen schätze ich bis heute.»
Als er noch berufstätig war, prägten für ihn neben der Samichlaus- und Weihnachtsfeier die verkaufsoffenen Sonntage die Zeit vor Weihnachten. Heute gönnt sich der Alleinstehende hier und da einen Besuch auf einem Adventsmarkt. Ansonsten sind die Weihnachtstage für ihn ganz normale Tage. Fällt einer davon auf den Sabbat, besucht er wie immer den Gottesdienst in der Synagoge.

Licht im Dunkeln
Ähnlich wie das Christentum kennt auch das Judentum ein Lichterfest in der dunklen Jahreszeit: Chanukka beginnt am 25. Tag des Monates Kislev und dauert acht Tage, d.h. es wird je nach Stand des jüdischen Kalenders im Zeitraum von Anfang Dezember bis Anfang Januar gefeiert. An diesem Familienfest wird der Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem 164 v. Chr. gedacht. Gemäss der Überlieferung soll es für den siebenarmigen Leuchter im Tempel nur noch für einen Tag reines Olivenöl gegeben haben. Durch ein Wunder habe dieses Öl jedoch acht Tage gereicht, bis neues geweihtes Öl zur Verfügung gestanden sei. Zur Erinnerung daran werden am Chanukka-Leuchter nacheinander acht Kerzen entzündet. Die neunte ist der «Diener», mit dem das Feuer weitergegeben wird. «Der Leuchter wird ins Fenster gestellt, damit alle sehen, dass Chanukka gefeiert wird. Er soll nur erfreuen, nicht als Lichtquelle dienen», erzählt Leo Gideon. Er erinnert sich noch gut daran, dass seine Grossmutter für jeden Jungen eine Girlande mit acht Päckchen aufgehängt hat. «Wenn man brav war, gab es ein Geschenk.» Dieses Jahr wird Chanukka vom 19. bis 26. Dezember gefeiert.

Gottesdienst im Staatsfernsehen
Bushra Buff-Kazmi (52) kennt als pakistanische Muslima Weihnachten seit ihrer Kindheit. Sie ist mit zwei Schwestern und einem Bruder in der Stadt Gujranwala im Nordosten Pakistans aufgewachsen. Die zwei besten Freunde ihres Bruders sind Christen. Sie haben Buff am 24. oder 25. Dezember immer mit einem Weihnachtskuchen beschenkt, auf den sie jeweils sehnsüchtig gewartet hat. «In Gujranwala gibt es eine katholische und eine reformierte Kirche», erzählt sie. «An Heiligabend wurde der Gottesdienst der katholischen Kirche im Staatsfernsehen live übertragen. Das fand ich immer schön.»

Familienfest
An der Adventszeit mag sie das Kerzenlicht. Sie stellt Kerzen auf die Fenstersimse im Wohnzimmer und lässt sie bei Einbruch der Dunkelheit brennen. Für ihre drei Kinder im Alter von 18, 17 und 10 Jahren hat sie jeweils einen Adventskalender gebastelt. Weihnachten ist für sie ein Fest der Familie. Sie geniesst es, dass man dann Zeit hat füreinander. Sie findet es schön, dass die Familie wenigstens an Weihnachten zusammenkommt. «In Pakistan besuchen sich die Familien oder Menschen auch sonst unter dem Jahr immer mal wieder. Das fehlt mir hier schon. Es ist schwierig, einfach spontan bei jemandem zu klingeln», sagt sie. Für sie ist Weihnachten auch eine Zeit der Reflexion über den Ursprung des Menschen: «Jeder hat seine Stärken und Schwächen. Deshalb sind wir aufeinander angewiesen und ergänzen uns.»

Zimt im Guetzliteig
Guetzli bäckt Bushra Buff nicht. Das überlässt sie ihrem Mann, der aus einer reformierten Pfarrersfamilie stammt. Sie hat mit ihrer verstorbenen Schwiegermutter Guetzli gebacken. «Als Mama sagte, sie brauche Zimt für den Guetzliteig, konnte ich das beim ersten Mal nicht glauben. Zimt gehört doch in den Reis oder in Pilau», erzählt sie lachend. «Mama war meine beste Freundin. Wir haben über alles miteinander geredet und sie hat mir sehr viel beigebracht. Ich habe grosses Glück gehabt mit meinen Schwiegereltern», sagt sie dankbar und trägt die Erinnerungen an ihre Schwiegermutter tief in ihrem Herzen. Selbstverständlich gibt es im Hause Buff-Kazmi auch einen Tannenbaum. Und wenn der Schwiegervater zu Besuch kommt an Weihnachten, dann üben die Kinder mit ihren Instrumenten extra Weihnachtslieder ein.

Trauerkleidung
Über die Darstellung von Weihnachten in der Bibel und im Koran sagt die Schiitin, die über einen Master in Ethnologie und einen Master in Entwicklungszusammenarbeit verfügt: «Jesu Geburt nimmt einen grossen Stellenwert im Koran ein. Im Gegensatz zur Bibel wird sie dort genau beschrieben. Gott leitet Maria an, an den Fluss zu gehen und sich von den nahrhaften Früchten der Dattelpalme zu ernähren. Maria bringt Jesus alleine zur Welt, Josef spielt keine Rolle. Maria erhält aber himmlischen Beistand durch Eva und Assia, die Moses grossgezogen hat.» Bushra Buff findet es schade, dass sich die Menschen zur Geburt Jesu in schwarze oder dunkle Kleider hüllen, die doch der Trauer vorbehalten sind. In Pakistan würden die Menschen in leuchtenden Farben Weihnachten feiern.

Freidenker mit christlichen Wurzeln
Gino-Enrico Kaufmann (35) lebt in Berneck, arbeitet als technischer Berater und ist Präsident der Freidenkenden Ostschweiz. «Früher haben wir in unserer Familie so richtig Weihnacht gefeiert, wie man es in der Schweiz kennt», erzählt er im Rückblick auf seine Kindheit. »Wir sind in die Kirche gegangen, sassen um einen Christbaum, das Christkind ist vorbeigekommen und wir haben gut gegessen.» Gino-Enrico Kaufmann wuchs in einer christlichen Familie auf - die Mutter war katholisch, der Vater reformiert -, besuchte den Religionsunterricht und engagierte sich als Ministrant. In seiner Jugendzeit wurde ihm der Glaube fremd: «Ich konnte nicht mehr an Gott oder Jesus glauben.» Mit 18 Jahren trat er aus der katholischen Kirche aus. Mit etwa 24 Jahren begegnete er den Freidenkenden. Ihr Einsatz für humanistische Grundwerte und für die Säkularisierung der Schweiz, für ein friedliches und tolerantes Zusammenleben hat ihn sehr angesprochen.

Zeit für die Familie
Seine Abkehr von der Kirche hält Gino-Enrico Kaufmann nicht davon ab, sich weiterhin im kirchlichen Umfeld zu engagieren. «Am Samichlaus-Tag war ich als Schmutzli unterwegs», erzählt er. Eine kirchlich engagierte Kollegin hatte ihn zuvor angefragt. Dieses Engagement kann er gut mit seinem Gewissen vereinbaren, da er im Samichlaus ein Stück Kultur sieht. «Wenn ich etwas über Jesus erzählen müsste, hätte ich allerdings Mühe.»
Die Weihnachtstage wird Gino-Enrico Kaufmann ähnlich wie in den vergangenen Jahren verbringen. Für seinen Vater, seinen Bruder und ihn ist es ein guter Brauch, vor Weihnachten miteinander einen grossen Spaziergang zu machen, bei dem auf das ausklingende Jahr zurückgeblickt wird und über das gesprochen wird, was kommen wird.
Den Heiligen Abend wird er zusammen mit seiner Freundin bei ihren Eltern verbringen. «Wir sitzen in der Familie zusammen, essen etwas Feines und haben Zeit füreinander. Das Religiöse ist in den Hintergrund geraten», sagt Kaufmann. Bei ihm zu Hause gibt es auch keinen Weihnachtsbaum mehr, nur noch etwas Weihnachtsdeko. Seine Mutter, die seinem Kirchenaustritt anfangs kritisch gegenüberstand, hat ein paar Jahre später festgestellt, dass sie sich auch nicht mehr mit der Kirche identifizieren kann, und ist ebenfalls ausgetreten.

Chance, sich zu begegnen
Für Gino-Enrico Kaufmann ist Weihnachten kein Fest, das das Christentum für sich gepachtet hat. Denn es sei ursprünglich ein heidnisches Fest zur Wintersommerwende gewesen, so der Geschichtsinteressierte. «Der römische Kaiser Konstantin entschied erst im 4. Jahrhundert, dass die Christen an diesem Tag Weihnachten feiern können.» Er sieht in diesem Feiertag eine Chance, dass man näher zusammenrückt – egal ob Christen, Muslime oder Atheisten –, dass man voneinander erfährt, Ansichten und Werte austauscht, ohne sich gegenseitig missionieren zu wollen.
Kollegen, die noch einer Kirche angehören, würden ihn manchmal scherzhaft fragen, was er denn als Atheist an Weihnachten so machen würde. Für den Freidenker geht es allerdings nicht darum, ob Weihnachten «mein» oder «dein» Feiertag ist. «Wichtig ist, das Weihnachten dazu beiträgt, dass man <zämehebet>.»

Béatrice Eigenmann und Detlef Kissner, forumKirche, 15.12.2022

Leo Gideon mit dem neunarmigen Chanukka-Leuchter
Quelle: zVg
Leo Gideon mit dem neunarmigen Chanukka-Leuchter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bushra Buff mit ihrer Tochter Aviva
Quelle: Béatrice Eigenmann
Bushra Buff mit ihrer Tochter Aviva

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gino-Enrico Kaufmann
Quelle: zVg
Gino-Enrico Kaufmann sieht Weihnachten als Chance, dass Menschen sich offen begegnen.

Kommentare

+

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.