Wahrnehmungen zum Phänomen der Zeit

Der Jahreswechsel führt uns anschaulich vor Augen, dass unsere Zeit vergeht: Wir blicken auf das alte Jahr zurück, wundern uns, wie schnell es vorüber ist, und planen die kommenden Monate. Eine gute Gelegenheit, innezuhalten und sich Gedanken darüber zu machen, was es mit der Zeit auf sich hat. forumKirche sprach mit dem deutschen Philosophen Norman Sieroka, der ein Buch über die «Philosophie der Zeit» veröffentlichte (S. 14).

Was ist Zeit?
Zeit ist keine Substanz, nichts Materielles, sondern es ist eine Möglichkeit, Ereignisse anzuordnen. Es gibt eine Vielfalt an Erfahrungen, die wir haben: im Privatleben, im Berufsleben, religiöse Erfahrungen, als Staatsbürger im politischen Kontext… Alles lässt sich zeitlich ordnen. Da merkt man, was das für eine Vielfalt ist, nicht nur an Erfahrung, sondern auch an zeitlicher Ordnung.

Was unterscheidet Raum und Zeit?
Zeit ist allgemeiner. Ereignisse lassen sich in der Zeit anordnen, im Raum geht dies nur manchmal. Eine Schneelawine ist zum Beispiel räumlich klar verortet, aber meine Urlaubserinnerungen oder der Jahreswechsel sind es nicht. Zeitlich gesehen ordnet sich alles, räumlich gesehen ordnen sich vor allem physikalische Ereignisse. Das macht Zeit allgemeiner, aber auch abstrakter und schwieriger. Das fällt beispielsweise auf, wenn wir über Zeit reden. Wir verwenden dafür oft räumliche Begriffe wie zum Beispiel «Zeitstrecke».

Was hat das Prinzip «Ursache und Wirkung» mit Zeit zu tun?
Ein wichtiger Unterschied zwischen Raum und Zeit ist, dass man im Raum vorwärts und rückwärts, nach links und rechts, nach oben und unten gehen kann. Mit der Zeit geht das nicht. Bei der Zeit geht es nur in eine Richtung, da geht es nur vorwärts. Und genau das ist mit dem Konzept von Ursache und Wirkung verbunden. Wirkungen kommen nach den Ursachen. Alles andere würde uns sehr verwundern. Ursache und Wirkung sind verbunden mit einem zeitlichen Früher und Später. Es gibt sogar eine philosophische Debatte darüber, ob man das eine über das andere definieren kann, ob man sagen kann: Die Gerichtetheit der Zeit gibt es nur, weil es Ursache und Wirkung gibt.

Ist Zeit kontinuierlich oder besteht sie eher aus kleinen Einheiten?
Diese Frage stellt sich tatsächlich in ganz verschiedenen Kontexten. Das kann man sich ganz formal, mathematisch fragen: Ist Zeit kontinuierlich oder diskret? 
Aber diese Frage betrifft uns auch in unserem Erleben. Wir erleben Zeit als kontinuierlich, zugleich erleben wir aber immer einzelne Momente. Solche Momente sind mehr als einzelne Punkte, sie sind wie kleine Ausschnitte. Dass man Sätze versteht, dass man Musik hören kann, ist mit einer Integrationsleistung verbunden. Wenn ich eine bestimmte Tonhöhe höre, ist das nicht punktuell. Es ist wirklich ein ausgedehntes Zeitintervall, das ich wahrnehme, wenn ich beispielsweise ein A höre. Dieses Zusammenspiel von kontinuierlich und diskret finde ich spannend. Ein Sinneseindruck ist etwas Einzelnes und trotzdem ist ein innerer Bezug zu einem Vorher und Nachher da.

Vergeht Zeit aus physikalischer Sicht immer gleich schnell?
Es hängt davon ab, wie schnell sich etwas bewegt. Bei Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit führt dies zu erheblichen Unterschieden in Zeitabständen. In unserem Alltag spielt dies aber keine Rolle, weil wir uns nicht mit den entsprechenden Geschwindigkeiten bewegen, um dies bemerken zu können. 
Im Blick auf die physikalische Zeit finde ich es faszinierend, dass es keine einheitliche Vorstellung gibt. In den unterschiedlichen Bereichen der Physik existieren unterschiedliche Theorien und Konzeptionen von Zeit. Die Zeit in der Quantenmechanik funktioniert völlig anders als in der Relativitätstheorie. Die Unterschiede zeigen sich nicht erst in der Berechnung der fünften Stelle hinter dem Komma, sondern schon im Grundkonzept, z. B. bei den Fragen, ob Zeit etwas Dynamisches oder ob sie gerichtet ist. In der Thermodynamik ist die Zeit etwas Gerichtetes, in der Quantenmechanik hingegen nicht. 

Ist es theoretisch denkbar, dass man - wie im Film «Zurück in die Zukunft» - eine Zeitreise unternehmen kann?
Ja, eine solche Zeitreise ist im Einklang mit bestehenden physikalischen Theorien. Eine andere Frage ist es jedoch, ob das auch praktisch möglich ist. Wir stossen an unsere biologischen Grenzen, weil sich zum Beispiel unser Organismus nicht mit annähernd Lichtgeschwindigkeit fortbewegen kann, ohne Schaden zu nehmen. De facto wird es eine Zeitreise wie in «Zurück in die Zukunft» nicht geben. 
In diesem Zusammenhang wird auch oft das Grossvater-Paradoxon diskutiert. Das ist die Frage, ob man als Zeitreisende*r durch Manipulation der Grosseltern die eigene Existenz verhindern kann. Die Rahmenbedingung der eigenen Existenz kann allerdings schon aus rein logischen Gründen nicht verletzt werden. Damit spricht dieses Paradoxon aber nicht prinzipiell gegen die Möglichkeit von Zeitreisen. 

Wie hängt die äussere Zeit mit unseren Wahrnehmungen, unserem Denken und Zeitempfinden zusammen?
Jede Wahrnehmung hat eine zeitliche Struktur. Nicht jede Vorstellung, die ich habe, muss räumlich sein, z. B. wenn ich rechne, fehlt eine räumliche Komponente. Aber es ist in jedem Fall ein Prozess in der Zeit. Mit jedem Denken ist Zeit mitgegeben. 
Wahrnehmen, Empfinden, Denken – all diese geistigen Tätigkeiten sind sehr spezifisch mit der Zeit verknüpft. Wahrnehmen kann ich nur Sachen, die gegenwärtig sind. Wahrnehmen kann ich nur Sachen, die gegenwärtig sind, keine vergangenen und keine zukünftigen. Erinnerungen sind immer auf die Vergangenheit gerichtet. Ich kann mich nicht an die Zukunft erinnern. Solche zeitlichen Marker dienen auch als Test für psychische Störungen. Hoffnung habe ich bezüglich der Zukunft. Wenn ich Hoffnung bezüglich der Vergangenheit hätte, ist irgendetwas nicht in Ordnung. 

Ewigkeit wird als eine Art «Zeitlosigkeit» verstanden. Kann man sich so etwas vorstellen?
Einfacher ist es, zunächst einmal die Perspektive zu weiten. Man kann sozusagen einen Schritt zurücktreten und statt der Gegenwart etwa sein Leben als Ganzes anschauen. Aber das ist noch nicht Ewigkeit. Zeitlosigkeit zeigt sich in der Mathematik: 2 + 2 = 4. Das ist nicht nur jetzt, sondern immer so. Zeitlosigkeit zeigt sich auch in Alltagsweisheiten und moralischen Regeln. Man soll nicht nur jetzt gerade nicht töten. Aber eine Vorstellung von Ewigkeit ist damit nicht automatisch verbunden. 

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass dem Kirchenjahr eine «herausragende seelsorgerische Funktion» zukommt. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Wir haben zwei fast diametrale Charakterisierungen der Zeit. Wir assoziieren mit ihr Wiederkehr: Es wird immer wieder Frühling, die Pendeluhr schlägt jede Sekunde wieder aus… Auf der anderen Seite assoziieren wir mit Zeit aber auch Entwicklung: Es passiert etwas Neues, wir werden alle älter, die Kinder werden gross. Das Wechselspiel dieser beiden Pole zeichnet unser Leben aus. Man muss es allerdings in Balance halten. Wenn sich dauernd alles erneuert, hält man das nicht aus. Dann hat man keine Orientierung mehr.
Hier geben Rituale Halt. Das gilt im religiösen Kontext, kann aber schon mit der morgendlichen Tasse Tee beginnen. Das Kirchenjahr bietet feste Wegmarken, die immer wiederkommen. Wir brauchen solche Wegmarken wie Weihnachten und Ostern, an denen wir uns orientieren können. Kurioserweise darf es aber nicht genau dasselbe sein, kein exaktes Duplikat. 

Das wäre eher Erstarrung, Tod.
Ja, sterile Repetition wäre Tod. Wir Menschen brauchen auf der einen Seite Orientierung, aber wir brauchen auch – philosophisch formuliert – Kontraststeigerung. Wir brauchen neue Erfahrungen. Aber ich muss sie einordnen können in eine Lebensgeschichte.

Nur so erfahren wir Sinn. 
Ja, genau. Wir reden ja auch vom Uhrzeigersinn. Die elementarste Form von Sinn, die wir in unserem Leben erfahren, ist der Zeitsinn und ist die Fähigkeit, unserem Leben eine zeitliche Ordnung zu geben.

In Ihrem Buch betonen Sie, dass man Zeit weder «verlieren» noch «sparen» kann.
Meine Einschätzung ist, dass solche Vorstellungen zugenommen haben. In Verkehrsnachrichten heisst es beispielsweise: «Auf dieser Strecke verlieren Sie 20 Minuten.» Vor 20 Jahren hat das niemand so formuliert. Wenn wir alle so reden, macht das aber etwas mit uns. Wenn ich eingeredet bekomme, ich würde Zeit verlieren, ist das nicht gut. Solche irreführenden Redeweisen wecken die Sehnsucht, dass ich das ausgleichen muss. Aber ich kann es nicht ausgleichen. Das verursacht viel Leid. Das Bild ist von Anfang an falsch. Ich kann die Zeit nicht suchen wie einen verlorenen Hausschlüssel. Zeit ist eben nichts Materielles.
Auch die Formulierung «quality time» halte ich für problematisch. Man unterscheidet zwischen «guter» und «schlechter» Zeit. Wo verläuft die Grenze? Gehört Joggen zur «quality time»? Und was ist mit der Zeit, die ich mit der Familie verbringe? Auch diese Formulierung hat mit der Verdinglichung der Zeit zu tun.

Wie wird man dem Phänomen Zeit am ehesten gerecht?
Indem man ihre Betrachtung nicht auf eine Sichtweise reduziert. Es zählt nicht nur die messbare physikalische Zeit. Das verkürzt die Erfahrungskontexte. Es ist wichtig, den verschiedenen Zeiterfahrungen - von den alltäglichen bis hin zu den religiösen - Raum zu geben und allen ihr Recht zuzugestehen. 

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 11.1.2022
 

Norman Sieroka
Quelle: zVg
Norman Sieroka ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Bremen und Privatdozent für Philosophie an der ETH Zürich.

 

 

Sanduhr in einem Fresco von Lorenzetti um 1340
Quelle: Yorck Project/Wikimedia Commons
Schon früh versuchte der Mensch die Zeit zu messen, wie die Darstellung einer Sanduhr in einem Fresco von Lorenzetti um 1340 zeigt.

 

 

Atomuhr
Quelle: NIST/Wikimedia Commos
Heute misst man die Zeit mit optischen Atomuhren (hier die Ytterbium-Gitter-Atomuhr), deren Abweichungen weniger als eine Sekunde in 300 Millionen Jahren betragen.

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