Die soziale Kompetenz des Lügens

Ehrlich währt am längsten? Danach streben wir vielleicht, doch halten uns nicht immer daran. Wir alle lügen mehrmals täglich, ob wir das so beabsichtigen oder nicht, aus ganz unterschiedlichen Motiven. Sei es aus Höflichkeit, aus der Not heraus, um uns besser dastehen zu lassen oder um uns Vorteile zu verschaffen. In welchen Momenten uns die Lüge als bessere Wahl erscheint als die Wahrheit und warum das so ist, erklärt die Journalistin und Buchautorin Andrea Haefely.

Was hat Sie dazu motiviert, einen Ratgeber zum Thema Lügen zu schreiben?

Als Journalistin werde ich fast tagtäglich belogen oder zumindest beschwindelt. Sei es von Betrügern, Blendern, Karrieristen und Posern, die sich selber näher stehen als der Wahrheit oder von Pressesprechern, die meine Fragen nicht völlig wahrheitsgetreu beantworten. Das ist aber ok, in beiden Fällen gehört es ja quasi zum Berufsbild. Zudem bin ich als schlechte Lügnerin persönlich von dem Phänomen Lüge fasziniert.

Worin soll uns dieser Ratgeber unterstützen und wie?

Unterstützen kann es etwa bei der Frage, wann ich mich mit Lügen strafbar mache, wie viel Lüge in der Partnerschaft erlaubt und sogar nötig ist, oder wo in der Arbeitswelt Lügen durchaus erlaubt sind. Das Buch vermittelt aber generell viel Wissenswertes über das Phänomen Lügen.

Es heisst, jeder von uns lügt durchschnittlich 25 Mal am Tag. Einige Studien behaupten sogar 200 Mal täglich. Können wir also gar nicht ehrlich sein, selbst wenn wir es wollten?

Wir können schon, aber das ist brutal anstrengend. Und sozial schwer verträglich, denn viele Schwindeleien sind nötig, um das Zusammenleben mit andern angenehm zu gestalten.

Finden Sie sich selbst in dieser Zahl wieder und sind Ihnen die Lügen in dem Moment immer bewusst?

Ich habe nie gezählt, keine Ahnung. Aber wenn ich schwindle, also etwa meiner Kollegin zu ihrem neuen Haarschnitt gratuliere, der ihr gar nicht steht, ist mir das natürlich bewusst.

Wo verläuft die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge? Hat die Wahrheit nicht immer viele Gesichter, je nachdem, aus was für einem Blickwinkel man sie betrachtet?

Wahrheit ist tatsächlich nicht dasselbe wie Realität und damit relativ. Eine Lüge ist aber ein bewusster Akt, ich gebe etwas wider besseren Wissens vor.

Wann lügen wir und weshalb?

Generell lügen wir, weil wir uns oder eine Situation besser dastehen lassen wollen, als es der Realität entspricht. Um uns Vorteile zu verschaffen. Oder eben, um jemand anderes zu schützen. Manchmal auch aus Bequemlichkeit. Wir scheuen die Konfrontation.

In welchen Situationen kann eine Lüge nicht nur mir, sondern auch anderen nützlich sein?

Es gibt durchaus gute Lügen. Um beim Beispiel meiner Kollegin mit der unvorteilhaften Frisur zu bleiben. Die Wahrheit wäre für sie viel schädlicher als eine kleine Schwindelei. Man spricht ja auch von Höflichkeitslügen.

Wäre denn die Wahrheit in diesem Fall wirklich schlimmer?

Natürlich ist es nicht wahnsinnig «schlimm» zu hören, dass die Frisur suboptimal ist. Aber vielleicht ist die Kollegin sehr unsicher, was ihr Aussehen anbelangt? Dann tut ihr die Wahrheit nur unnötig weh. Bei der Entscheidungsfindung ist «unnötig» das Stichwort.

Aber irgendwann vertragen wir doch die Wahrheit gar nicht mehr, wenn wir die ganze Zeit nur gebauchpinselt werden, oder?

Es ist ja nicht so, dass wir immer gebauchpinselt werden. Die Menschen um uns herum sagen uns mindestens einmal am Tag eine Wahrheit, die man auch netter hätte verpacken können.

Hält uns unser moralischer Kompass davon ab, ehrlicher zu sein? Gerade weil wir denken, Höflichkeit steht vor der Wahrheit?

Es ist eher umgekehrt. Der moralische Kompass sagt uns: Du darfst nicht lügen. Aber unser gesunder Menschenverstand erlaubt es uns in gewissen Situationen, weil es einfach die bessere, sozial verträglichere Wahl ist.

Warum ist es so schwierig, im richtigen Moment ehrlich zu sein?

Weil ich, wenn ich eine Lüge gestehe, das Gesicht verliere. Und weil die Wahrheit Konsequenzen haben wird, wegen denen ich ja überhaupt gelogen habe. Auf jeden Fall ist es besser, schnell mit der ganzen Wahrheit herauszurücken als die – wie ich es im Buch nenne – Salami-Taktik anzuwenden. Dann fühlt sich der Belogene zusätzlich nicht für voll genommen.

Was macht Lügen mit uns? Wie steht es um unser Vertrauen, wenn wir von unseren Mitmenschen und unserer Umwelt ständig belogen werden?

Das kommt darauf an, in welchem Zusammenhang wir belogen werden. Wenn ein Ehepartner herausfindet, dass der andere seit Jahren mit einer weiteren Person verheiratet ist, schadet das sicher mehr, als wenn ich meiner Kollegin irgendwann einmal gestehe, dass die Frisur damals echt nicht der Brüller war.

Kann man erkennen, ob jemand in einer bestimmten Situation lügt?

Das ist viel schwieriger, als uns Kriminalfilme und populärwissenschaftliche Bücher weismachen wollen. Die allgemein gültige Regel gibt es nicht. Selbst Lügendetektoren sind nicht zuverlässig.

Inwiefern hat sich unser Bedürfnis nach Wahrheit historisch verändert? Ist es heute stärker?

Das glaube ich nicht. Aber durch unsere globale Medienwelt entsteht der Eindruck, dass wir viel schneller an die Wahrheit gelangen. Das Gegenteil ist aber auch der Fall: Lügen werden viel schneller verbreitet.

Interview: Sarah Stutte (25.3.19)


Ausstellung zum Thema Lügen

Fake-News, Fake-Profile und Fake-Produkte. Was ist echt, was ist wahr und was gelogen? Wem können wir noch vertrauen? Für die Ausstellung «FAKE. Die ganze Wahrheit» verwandelt sich das neue Stapferhaus am Bahnhof Lenzburg in das Amt für die ganze Wahrheit. Darin sind alle eingeladen, den Lügen auf den Zahn und der Wahrheit den Puls zu fühlen. Die interaktive Ausstellung läuft noch bis zum 24. November, Di bis So, 9.00 bis 17.00 Uhr, Do bis 20.00 Uhr, www.stapferhaus.ch.

 


Buchtipp


«Schweigen, schummeln, lügen»


Wer mehr weiss übers Lügen, hat eine bessere Nase für die Wahrheit! Am Anfang steht die Selbsterkenntnis,
dass wir alle schummeln, lügen und Unangenehmes verschweigen. Täglich. Oft ganz selbstverständlich und ohne gross nachzudenken. Um in der Partnerschaft keine schlechte Stimmung zu er zeugen, um den Kindern eine Enttäuschung zu ersparen, um dem Chef die gute Laune nicht zu verderben, oft zum Vorteil aller Beteiligten. Aber nicht immer. Wo ist die Grenze zwischen legitimer Schummelei und handfester Lüge, die anderen schadet? Wo reibt sich Unehrlichkeit an Wertvorstellungen und wo beginnt der Konflikt mit dem Gesetz? Anhand treffender Zitate, unterhaltsamer Porträts, amüsanter Episoden und Ausflügen in die Spannungsliteratur, die ohne Lügen nicht auskäme, rundet die Autorin Andrea Haefely den breiten Zugang
zum alltäglichen Tabu-Thema Lügen ab.

Mit Illustrationen von illumüller.ch.

Autorin: Andrea Haefely
Verlag: Beobachter
ISBN: 978-3-85569-830-1


 

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Die Beobachter-Journalistin Andrea Haefely beschäftigt sich in ihrem Buch «Schweigen, Schummeln, Lügen» ausführlich mit dem Phänomen Lüge (siehe Buchtipp).

Bild: zVg

 
 
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Mit drei bis vier Jahren fangen wir an, bewusst zu schwindeln. Laut Wissenschaftlern ist «Lügen lernen» Teil unserer geistigen Entwicklung.

Bild: pixabay.com

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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