Lieber Franziskus, lieber Mitbruder in Christus Jesus

Die Zahlen und die Realität des Missbrauchsskandals in der Schweiz, in Deutschland und anderen Ländern haben mich zutiefst erschüttert, betroffen und wütend gemacht. Es zeigt das Versagen und die Korruption der katholischen Kirche und ihres bisherigen monarchistisch-absolutistischen Systems seit der Konstantinischen Wende. Und das Schlimmste, es macht den Verrat an der so menschlich-befreienden Botschaft Jesu deutlich.

Für mich ist es besonders tragisch, dass ich mein ganzes Leben in den Dienst dieser Botschaft Jesu gestellt habe, dies im Bewusstsein, dass die Kirche und ihre Tradition über einen wunderbaren Schatz an Erfahrungen und bewährten Methoden im Bereich der Spiritualität und des Glaubens, der Ethik und der Wertevermittlung, der Lebensbewältigung und der mitmenschlichen praktischen Hilfe verfügt, die es immer wieder zu aktualisieren und zu verlebendigen gilt. Und ich durfte dabei auf die Hilfe meiner Frau und meiner Familie zählen, die mich dabei massgeblich unterstützt hat. Mit vielen wertvollen Menschen durfte ich in den Pfarreien und in der kirchlichen Erwachsenenbildung unterwegs sein und wunderbare Erfahrungen teilen.

Mit einigen Gleichgesinnten stand ich am Anfang einer kirchlichen Reformbewegung, die ab 1996 an die synodalen Prozesse (Synode 72, Pastoralforen) in der Kirche Schweiz anknüpfte und die Tagsatzung 1998 in Luzern mit über 350 Delegierten aus dem ganzen Bistum Basel verantwortete. Nach anfänglich zögerlichem Mittun Bischof Kurt Kochs verweigerte er eine weitere Zusammenarbeit, wenn es nicht allein nach seinen Vorstellungen ging. Als sich die Tagsatzungsbewegung auf die ganze Deutschschweiz ausdehnte, konnten sich die anderen Bischöfe auch nicht zu konkreten Taten und Schritten der Synodalität durchringen.

In Theolog*innenkreisen war bisher die Meinung vorherrschend, dass in der Schweiz nicht das gleiche Ausmass an Missbrauchsfällen wie in Deutschland möglich sein könnte, weil wir ja das duale System kennen und die demokratisch verfassten Kirchgemeinden und Landeskirchen sicher auch gut hingeschaut hätten… Doch das Desaster zeigt, dass dem nicht so ist und die Verheimlichung und das Verschleiern den kirchlichen Verantwortungsträgern so gut gelungen ist, dass man meist um das kriminelle (von lateinisch crimen = Schuld, Verbrechen) Wirken so zahlreicher Priester und Ordensleute nicht wusste, da sie ja auch nicht dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Ja, warum wurden sie nicht angeklagt? Warum mussten sie ihre Schuld nicht sühnen und den Opfern Genugtuung leisten? Steht das System «Kirche» im Dienst der Machtvollen und nicht auf der Seite der Schwachen und Ohnmächtigen? Warum haben Bischöfe, Nuntien und Päpste die Verbrecher geschützt – sogar mit dem Geld der Gläubigen? Sind das nicht ähnliche Auswüchse wie in diktatorischen oder kommunistischen Systemen? In jedem Fall ist es ein Verrat an Jesu Botschaft – lesen Sie bitte nur das Magnifikat (Lk 1,46-55)!

Wenn ein System Sünde hervorbringt, so taugt dieses nicht und muss ersetzt werden – so die Befreiungstheologie. Daher muss auch das bestehende monarchistisch-absolutistische System «Kirche» verändert werden. Eine Kirche, die Bischöfe ohne Beteiligung der Basis einsetzt, nur aufgrund ihrer Konformität und ihres Gehorsams, die Nuntiaturen wie einen Geheimdienst betreibt, die jegliche Transparenz und Konstruktivität verhindern, verweigert sich dem Leben und der Entwicklung. Das Neue Testament hat mehrere Modelle von Kirche entworfen, die partizipativ funktionieren und die aktualisiert werden könnten. Sie, lieber Bruder Franziskus, haben die Möglichkeiten, einen solchen Prozess einzuleiten. Dabei genügt es nicht, den Klerikalismus und den Zentralismus mit Worten zu verurteilen, es braucht – endlich – Taten und konkrete Schritte! Daher genügt es auch nicht, Bischöfe zu versammeln und über die Möglichkeit synodaler Prozesse zu beraten. Braucht es nicht eher eine bzw. verschiedene Versammlungen von Menschen der Basis, die ihre Bedürfnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen artikulieren und bereit sind, neue Strukturen zu schaffen und mitzutragen, die den Menschen und der Zukunft der Welt angemessen sind? Es wird auch nicht darum gehen, die Einheit mit Uniformität zu verwechseln, sondern eine Verbundenheit in der Vielfalt in respektvollem Miteinander anzustreben.

Wie können wir den Sumpf der Morbidität verlassen und uns dem Leben, den Menschen und unserer Lebensgrundlage, der Erde, zuwenden? Sie, lieber Bruder Franziskus, haben sich im Dienste Gottes und aus der Kraft des Glaubens verpflichtet, dem Wohl der Menschen und der Zukunft der Welt zu dienen. Wie werden Sie nun den Erwartungen und Bedürfnissen der Menschen entsprechen und in wesentlichen und erforderlichen Schritten in Ihrem Dienst gerecht werden?

Was ist unsere Aufgabe? Müssen wir einen eigenständigen, unabhängigen Weg in der Kirche Schweiz suchen? Oder gibt es noch Möglichkeiten, die bestehende Kirche zu reformieren? Macht es noch Sinn, Sie mit unseren Kräften zu unterstützen? Welche Wege könnten wir noch gemeinsam tun?

Klar ist: Es braucht einen wirklichen Neuaufbruch. Und diesen Weg wünsche ich mir – aufgrund meiner vielen positiven und wertvollen Erfahrungen mit Glauben und Spiritualität, mit Weggefährt*innen und liebgewordenen Menschen – und genährt von der Hoffnung und Freude, dass etwas von der befreienden und verwandelnden Botschaft Jesu wieder Früchte tragen kann…

Haben Sie, lieber Bruder Franziskus, eine Antwort an mich, an uns?

Mit meinen brüderlichen Segenswünschen

Dr. theol. Bruno Strassmann-Schanes

Bruno Strassmann
Quelle: Detlef Kissner

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