Abstimmung über das revidierte Transplantationsgesetz 

Am 15. Mai stimmt die Schweiz darüber ab, ob man neu als Organspender*in gilt, wenn man sich nicht explizit dagegen ausgesprochen hat. Ohne dokumentierte Willensäusserung kommt den Angehörigen wie bisher eine entscheidende Rolle zu. 

Jede Woche sterben in der Schweiz eine bis zwei Personen, weil sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan erhalten. Der Mangel an Spenderorganen steht im Kontrast zur überwiegend positiven gesellschaftlichen Meinung zur Organspende. Wie ist das zu interpretieren und wie geht man damit um? Frank Mathwig stellte diese Fragen in seinem Referat an der Tagung «Schänk mir dis Härz. Organspende in der Schweiz» Anfang April in Zug. Er ist Titularprofessor für Ethik der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK).
Die Antwort des Bundesrates formulierte Mathwig so: «Wenn wir eine so starke positive Meinung haben, müssen wir das besser nutzen.» Im Wechsel zur Widerspruchslösung sieht man das Mittel dazu. Dieses Modell geht von einem generellen Einverständnis zur Organspende aus, ausser man hat diese ausdrücklich abgelehnt. Beim Zustimmungsmodell ist es umgekehrt. Ist nur die*der Betroffene involviert, spricht man von einer engen Lösung, sind auch die Angehörigen einbezogen, von einer erweiterten Lösung. 

Plädoyer für das Erklärungsmodell 
In der Abstimmung am 15. Mai können wir uns mit einem Ja für den Wechsel zur Widerspruchslösung oder mit einem Nein für den Status Quo entscheiden. Nicht zur Wahl steht das Modell, welches Mathwig bevorzugt: die Erklärungslösung. Bereits 2012 hatte sich die Nationale Ethikkommission dafür ausgesprochen und auch die Bioethikkommission der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) plädiert für diese Regelung. Leider habe die Politik kein Interesse gehabt, über das Erklärungsmodell zu diskutieren, sagte Mathwig. 
In einer Stellungnahme vom Mai 2021 hält die Bioethikkommission der SBK fest, dass eine «Erklärungsregelung», bei der die Bevölkerung regelmässig aufgefordert würde, der Organspende zu widersprechen, ihr zuzustimmen, den Willen dazu nicht zu äussern oder den Entscheid an eine Vertrauensperson zu delegieren, aus ethischer Sicht als auch in Bezug auf ihre Wirksamkeit die bessere Lösung wäre. «Über eine Aufklärung der Bevölkerung könnte die Zahl der Spenden auf diese Weise erhöht werden. Jede einzelne Person könnte frei entscheiden und den Angehörigen könnte diese schwierige Entscheidung abgenommen werden.»

Sterben wird tabuisiert
Eine Organentnahme ohne ausdrückliche Zustimmung des*der Betroffenen komme einer Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte gleich, schreibt die Bioethikkommission in einer Stellungnahme zur Abstimmung vom 15. Mai. Beim Wechsel von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung gehe es um einen Paradigmenwechsel in den Grundrechten, sagte Mathwig an der Tagung. 
Mathwig sieht den Mangel an Spenderorganen als Symptom dafür, dass Sterben und Tod tabuisiert werden. «Wenn der Tod in dieser Gesellschaft nicht stattfindet, dann natürlich die Organspende auch nicht!» Die Möglichkeiten der modernen Medizin spielen dabei eine zentrale Rolle. «Wir sind zu Entscheidungen genötigt, die frühere Generationen nicht zu treffen hatten», sagte Mathwig. 
Darf man Leute drängen, Organe zu spenden? Nein, sagte Corine Mouton Dorey vom Institut für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich. Es gehe darum, wie ein Bewusstsein geschaffen werden könne, dass Spender und Empfänger nicht als Interessengruppen auftreten, sagte Mathwig. Man solle die Not der Menschen, deren Leben von einer Organspende abhängt, wahrnehmen, sich davon berühren lassen. Und: «Perspektive wechseln! Was wäre, wenn ich morgen auf ein Organ angewiesen bin?»

Darüber reden
«Es ist ein Thema, über das man nicht gerne spricht. Viele äussern sich nicht dazu», sagte Franz Immer, Kardiologe und seit 14 Jahren Direktor von Swisstransplant (Schweizerische Nationale Stiftung für Organspende und Transplantation). Für die Widerspruchslösung spricht aus seiner Sicht, dass jene, die eine Organspende ablehnen, selbst einen Schritt machen sollen. Und: «Wer nicht spenden will, bekommt eine Sicherheit, die er heute nicht hat.»
Was die Angehörigen betrifft, geht Franz Immer von einer Entlastung aus. Mathwig hingegen sprach von einem Dilemma der Ärzte und einem wachsenden Entscheidungsdruck für die Angehörigen. Für Ärzte sei es wichtig, dass ihnen jemand ein Ja ins Gesicht sage. Mathwig verwies auf Spanien, wo trotz enger Widerspruchslösung in der Praxis das Einverständnis der Angehörigen eingeholt werde. 
Unabhängig davon ob nun in der Schweiz weiterhin das erweiterte Zustimmungsmodell oder neu die erweiterte Widerspruchslösung gelten, müssen die Angehörigen, soweit sie einbezogen werden, den mutmasslichen Willen der verstorbenen Person berücksichtigen. Das ist vor allem dann schwierig, wenn nie über das Thema gesprochen wurde. Was bedeutet dieses Schweigen? Ist es statthaft, aus der Abwesenheit von ablehnenden Äusserungen auf ein Ja zu schliessen? «Es ist heikel, mit dem Schweigen zu kalkulieren», sagte Frank Mathwig dazu. 

Regula Vogt-Kohler/Red., 28.04.2022

(Der Artikel erschien zuerst in Kirche heute, Pfarreiblatt der Nordwestschweiz)
 


Die Abstimmungsvorlage in Kürze
Statt der bisherigen Zustimmungslösung soll für die Organspende neu die erweiterte Widerspruchslösung gelten. Wer seine Organe nach seinem Tod nicht spenden will, muss dies explizit festhalten. Liegt kein dokumentierter Wille vor, wird davon ausgegangen, dass die Person grundsätzlich mit der Organspende einverstanden ist. Wenn der Wille der verstorbenen Person nicht dokumentiert ist, können die Angehörigen nach dem mutmasslichen Willen des*der Verstorbenen eine Organspende ablehnen. Hat die Person ihren Willen nicht festgehalten und sind keine Angehörigen erreichbar, ist die Organentnahme nicht erlaubt. Für die Eintragung des Willens wird ein Bundesregister eingerichtet. Die medizinischen Voraussetzungen ändern sich nicht. Organe spenden können nur Personen, die auf der Intensivstation eines Spitals versterben. (dk)



Organspende in anderen Ländern
In den meisten europäischen Ländern, nämlich in 18, gilt in Bezug auf die Organspende eine eng gefasste Widerspruchsregelung (vgl. www.krankenkassen.de). In sechs Ländern wie Norwegen, Schweden, Finnland und Kroatien findet eine Widerspruchsregelung Anwendung, bei der die Angehörigen mitentscheiden dürfen. In neun Ländern, zu denen Irland, Dänemark, Deutschland und bis jetzt auch die Schweiz zählen, setzt man auf die erweiterte Zustimmungsregelung. Auffällig ist, dass die meisten Organe in Ländern gespendet werden, in denen die Widerspruchsregelung angewandt wird (vgl. Diagramm). Dass man auch mit der Zustimmungsregelung Menschen dazu bewegen kann, sich für die Organspende bereit zu erklären, zeigt das Beispiel der USA (vgl. www.bpb.de/themen). Dort werden jährlich 32 Spenden pro 1 Million Einwohner registriert. Ein möglicher Grund für diesen Erfolg ist die einfache Eintragung als Organspender*in. In den USA kann man sich nämlich in ein Spendenregister eintragen oder die Spendenbereitschaft im Führerschein vermerken lassen. Ausserdem steht den Krankenhäusern für Transplantationen mehr Personal zur Verfügung. (dk)
 


Frauenbund uneinig über erweiterte Widerspruchlösung

Obwohl sich alle Vorstandsmitglieder des Frauenbunds eine Lösung zur Behebung des Mangels an Spendeorganen wünschen, konnte das Gremium auch im zweiten Anlauf keine Parole fassen. Der Verbandsvorstand konnte keine konsolidierte Parole fassen und sieht seine Uneinigkeit als Zeichen einer ethisch und politisch komplexen Thematik. Der Schweizerische Katholische Frauenbund ruft seine Mitglieder dazu auf, sich mit der Vorlage auseinanderzusetzen und sich an der Abstimmung zu beteiligen. Hierzu unterstützt das Frauen-netzwerk seine Mitglieder mit dem Meinungsfinder Organspende https://www.riddle.com/view/323693 .
Die Diskussion der Vorlage ergab vor allem eines: Mit einem Organspendeausweis zu einer solidarischen Gesellschaft beizutragen und dies gleichzeitig unter ethisch vertretbaren Bedingungen zu tun, konfrontiert den Verbandsvorstand mit einem Dilemma.
Besonders die Bedingung der Informiertheit aller Bewohner*innen der Schweiz sowie der Druck auf Angehörige befeuerte das Gespräch. Keine der Vorstandsfrauen hat sich gegen die Organspende im Allgemeinen ausgesprochen. Der gesamte Vorstand betrachtet eine Organspende grundsätzlich als Akt der Nächstenliebe und wünscht sich eine Lösung zur Behebung des Mangels an Spendeorganen.
Derzeit gilt in der Schweiz die Zustimmungslösung: Einer verstorbenen Person dürfen nur dann Organe entnommen werden, wenn ein explizites Ja zur Spende vorliegt. Am 15. Mai stimmt die Schweiz über die erweiterte Widerspruchslösung ab. Wer unter der erweiterten Widerspruchlösung nicht vor seinem Tod einer Organentnahme widerspricht, wird automatisch Organspender*in. Angehörigen wird zusätzlich die Möglichkeit eingeräumt, die Organentnahme bei der verstorbenen Person zu verhindern, wenn die Ablehnung glaubhaft begründet werden kann. Dies kann Angehörige unter Beweislast und in der ohnehin emotional schwierigen Situation eines Todesfalls zusätzlich in grosse Bedrängnis bringen.

Schweizerischer Katholischer Frauenbund (SKF)

Referent*innen und Mitwirkende bei der Veranstaltung «Schänk mir dis Härz»
Quelle: © Thomas Müller/fotolight
Referent*innen und Mitwirkende bei der Veranstaltung «Schänk mir dis Härz»: Franz Immer, Hans Niggeli, Corine Mouton Dorey, Thomas Hausheer, Frank Mathwig, Christina Sasaki, Thomas Wallimann, Jonas Sagelsdorff.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Spenderaten westeuropäischer Länder
Quelle: EDQM, Newsletter Transplant, 2020: www.edqm.eu / Zahlen Schweiz: Quelle BAG
Die Grafik vergleicht die Spenderaten westeuropäischer Länder im Jahr 2019 als Spenden pro Million Einwohner*innen – Länder mit Zustimmungslösung (orange) und mit Widerspruchslösung (blau).

* Spenderate für das ganze Vereinigte Königreich. Die Widerspruchslösung gilt in Wales seit 2015, in England und Schottland seit 2020, in Nordirland gilt die Zustimmungslösung.
** Die Niederlande wechselten im Jahr 2020 von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung.

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