Ethische Regeln für den Notfall

Mit Fortschreiten der Corona-Pandemie wächst die Gefahr, dass die Intensivmedizin an ihre Grenzen stösst. Darauf hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) reagiert und gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) am 20. März Richtlinien veröffentlicht, die die Triage (Auswählen, Priorisierung) von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit regeln. forumKirche fragte nach bei Michelle Salathé, Leiterin Ressort Ethik und Stv. Generalsekretärin der SAMW.

Es gab schon Richtlinien für die intensiv - medizinische Behandlung vor der Corona- Pandemie. Wozu sind solche Richtlinien hilfreich und notwendig? 
Mit dem Corona-Virus (SARS-CoV-2) stehen die Intensivstationen vor ausserordentlichen Herausforderungen, weil eine hohe Zahl schwerstkranker Patient*innen auf intensivmedizinische Massnahmen angewiesen sind. Sollten die Ressourcen nicht mehr ausreichen, werden Rationierungsentscheide nötig. Die neuen Richtlinien schaffen die Basis für solche Entscheidungen. Zu betonen ist aber auch, dass solche Rationierungsentscheide erst dann nötig werden, wenn alle anderen Massnahmen ausgeschöpft sind, z. B. Beschränkung von Wahleingriffen, Verlegung von Patienten auf die Intermediate Care Units oder in andere Spitäler, Ausweiten von Behandlungsplätzen mit Beatmungsmöglichkeiten sowie Verzicht auf personalintensive Behandlungsmöglichkeiten. 

Wie hat die Corona-Pandemie diese Richtlinien verändert? 
Die Richtlinien «intensivmedizinische Massnahmen » von 2013 haben Ressourcenknappheit und Triage bereits in einem Kapitel aufgenommen, aber sehr kurz. Dieses Kapitel diente als Grundlage für die nun im Zusammenhang mit Covid-19 ausgearbeiteten verfeinerten Triage-Richtlinien. 

Sind in diese erweiterten Richtlinien bereits Erfahrungen aus Ländern mit sehr hohen Zahlen an Corona-Infektionen geflossen? 
Ja, wir haben die internationale Debatte verfolgt, z. B. wie die italienischen Intensivmediziner mit dieser Situation umgehen. Die SAMW war jedoch im internationalen Vergleich sehr früh mit ihren Richtlinien und es ist deshalb eher so, dass andere Länder sich an unserer Richtlinie orientiert haben. 

Welche konkreten Entscheidungskriterien spielen bei der Triage auf der Intensivstation eine Rolle, wenn diese an ihre Aufnahmegrenzen kommt? 
Bei der Entscheidung für oder gegen eine Behandlung auf der Intensivstation finden bei allen Patienten unabhängig von der Art ihrer schweren Erkrankung folgende Punkte Beachtung: Wie ist der Patientenwille (idealerweise gemäss Patientenverfügung oder Vorsorge-Dokument)? Möchte die Person überhaupt auf der Intensivstation behandelt und gegebenenfalls beatmet werden? Dann gilt als Hauptkriterium für die Triage die kurzfristige Prognose: Es haben also diejenigen Patienten die höchste Priorität, deren Prognose im Hinblick auf das Verlassen des Spitals mit Intensivbehandlung gut, ohne diese aber ungünstig ist; Patienten also, die am meisten von der Behandlung profitieren.

Der Patientenwille steht an vorderster Stelle in einer solchen Triage. Welche Angaben sollten im Blick auf eine Corona-Erkrankung in einer Patientenverfügung vermerkt sein? 
Ganz wichtig: Das Verfassen einer Patientenverfügung basiert auf einem längeren Prozess der Willensbildung. Dabei helfen Gespräche mit Angehörigen und Fachpersonen, z. B. dem Hausarzt. Die Entscheidung für oder gegen bestimmte medizinische Massnahmen, etwa Beatmung, sollte grundsätzlich gefällt werden. Personen können jedoch zum Schluss kommen, dass ihre Haltung gegenüber einer intensivmedizinischen Behandlung (z. B. nach einem schweren Sturz) abweicht vom Willen in Bezug auf eine schwere Infektionskrankheit wie Covid-19. In diesem Fall kann man diesen Willen explizit festhalten. 

An welchen ethischen Grundprinzipien orientieren sich die Abläufe und die Entscheidungskriterien der Richtlinie? 
Auch bei Ressourcenknappheit gelten die vier medizin-ethischen Prinzipien: Gutes tun, Nichtschaden, Respekt vor der Autonomie und Gerechtigkeit. Die Prinzipien «Gutes tun» und «Nicht schaden» leiten dazu an, jeden erkrankten Menschen möglichst gut zu behandeln und zu pflegen und gleichzeitig vor Massnahmen zu schützen, die ihm Schaden zufügen. Für die Entscheidungen sind der gesundheitliche Zustand im Einzelfall und die Prognose entscheidend. Und natürlich der Patientenwille, womit wir beim Prinzip der Achtung der Selbstbestimmung sind. Das letzte Prinzip – Gerechtigkeit – bedeutet, dass Geschlecht, Wohnort, Nationalität, religiöse Zugehörigkeit, soziale Stellung, Versicherungsstatus oder chronische Behinderung keine Rolle spielen dürfen bei Entscheidungen über die Behandlung und Pflege. Und auch das Alter darf aus Gerechtigkeitsgründen per se kein Kriterium sein, das zur Anwendung gelangen darf, denn es misst älteren Menschen weniger Wert bei als jüngeren. Das Alter wird jedoch indirekt im Rahmen des Hauptkriteriums «kurzfristige Prognose» berücksichtigt, weil ältere Menschen häufig gebrechlich sind und Vorerkrankungen haben. 

Die Richtlinien betonen, dass es notwendig ist, alle 48 Stunden über die Fortsetzung einer Behandlung zu entscheiden. Welche Kriterien sind dafür massgeblich?
Ganz grundsätzlich ist bei intensivmedizinischen Massnahmen eine regelmässige Evaluation zur Einschätzung der Gesamtsituation des Patienten notwendig. Verbessert sich der Gesundheitszustand nicht oder tritt eine Verschlechterung ein, muss entschieden werden, ob die Behandlung fortgesetzt oder eine Therapiezieländerung erfolgt und der Patient palliativ betreut wird. In der Situation der Ressourcenknappheit wird stärker als sonst, d. h. über die Patientensituation hinaus, die Gesamtsituation berücksichtigt und Entscheidungen sollen so getroffen werden, dass möglichst wenig Menschen sterben. Non-Covid-19- Patienten und andere Patienten, die bei voll ausgeschöpften Ressourcen auf der Intensivstation liegen, werden gleichbehandelt. 

Sehen die Richtlinien vor, dass der Arzt, der den Zustand des Patienten beurteilt, ein anderer sein muss als derjenige, der entscheidet, ob dieser Patient eine Intensivbehandlung erhält? 
Dazu enthalten die Richtlinien keine explizite Regelung, wir halten aber fest, dass wenn immer möglich die Entscheidung im Team getroffen werden muss. Es gibt aber dringliche Situationen, in denen rasch entschieden werden muss, wer auf die Intensivstation aufgenommen und wer verlegt werden muss. Die Richtlinien halten daher fest, dass die einzelnen Entscheide überprüfbar sein müssen, d. h. schriftlich dokumentiert, eine Begründung enthaltend und mit dem Namen des Entscheidungsträgers versehen. 

Wer soll Ihrer Ansicht nach in diese schwerwiegenden Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden? Wie sollten die Entscheidungen schlussendlich gefällt werden? 
Dazu äussern sich die Richtlinien ganz klar: Der Entscheidungsprozess muss unter der Leitung von erfahrenen Personen stehen. Wenn immer möglich sollen die Entscheidungen im interprofessionellen Team getroffen werden, also z. B. mit Einbezug der Pflegefachpersonen. Am Schluss ist jedoch die ranghöchste Person vor Ort namentlich dafür verantwortlich. Gremien (z. B. Ethikunterstützung, multiprofessionelles Team), die die Behandlungsteams unterstützen, können hilfreich sein. 

Entscheiden zu müssen, wer einen Intensivplatz erhält und wer nicht, kann psychisch sehr belastend sein. Haben Ärzte die Möglichkeit, sich in einer solchen Krisensituation Unterstützung zu holen? 
Kaderärzte der Intensivmedizin sind es gewohnt, mit Leben und Tod umzugehen. Therapieentscheidungen, insbesondere Aufnahme oder Abbruch von intensiv - medizinischen Behandlungen, gehören zu ihrem Alltag. In einer Situation mit knappen Ressourcen müssen solche Entscheidungen jedoch häufiger getroffen werden. Das kann sehr belastend sein. In den meisten Schweizer Spitälern gibt es etablierte Strukturen für ethische Fallbesprechungen und für den professionellen Umgang mit moralischer Belastung. In den letzten Wochen haben viele Spitäler diese Angebote ausgebaut und noch besser zugänglich gemacht. Vielerorts wurden Hotlines für die Mitarbeitenden eingerichtet. Die Anfragen werden von notfallpsychologisch geschulten Personen entgegengenommen und je nach Anliegen weitergeleitet, z. B. an psychologisch-psychiatrische Fachpersonen oder die Fachpersonen der klinischen Ethik. 

Welche Rückmeldungen haben Sie schon auf die neuen Richtlinien erhalten? 
Wir erhalten sehr viele Rückmeldungen, darunter viel Lob, weil wir sehr rasch reagiert haben und klare Entscheidungshilfen geben. Es gibt natürlich auch fachliche Rückfragen und Präzisierungen, die wir prüfen und wenn nötig vornehmen. Dies hat zu einem ersten Update der Richtlinie geführt. Die Situation ist insgesamt sehr dynamisch, weil sich die Fallzahlen und damit die Belastung der Spitäler laufend verändern, weil viel geforscht und national wie international intensiv zusammengearbeitet wird. Es ist also nicht auszuschliessen, dass es eine weitere Aktualisierung gibt. Die jeweils aktuellste Fassung, aber auch die Vorgänger-Versionen sind online zu finden: samw.ch/de/coronavirus. 

Interview: Detlef Kissner (14.04.20)


Umfrage

Es gibt eine öffentliche Umfrage von «Ethix», in der man sich zu den Richtlinien und deren Überlegungen äussern kann: www.ethix.ch (auf «Szenarien» klicken). 
 

Michelle Salathé
Michelle Salathé: «Wir erhalten viel Lob,
weil wir sehr rasch reagiert haben.»

Bild: zVg
 

 

 

 

Intensivstation
Erkranken viele Menschen auf einmal, müssen die Ärzte auswählen, wer eine Intensivbehandlung bekommen soll.

Bild: shutterstock.com

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