Gebiete, um zur Ruhe zu kommen

Eine Studie weist im Schweizer Mittelland 53 Gebiete mit hoher Ruhequalität aus. Die drei im Kanton Schaffhausen eruierten Gebiete sind flächenmässig die grössten. Worin genau besteht die Ruhe einer Landschaft? forumKirche ist dieser Frage nachgegangen.

In der Ferienzeit verreisen die Menschen wieder. Sie suchen Erholung vom Alltag, wünschen sich Ruhe, um aufzutanken. Doch was macht diese Ruhe überhaupt aus? In England wurden Befragungen gemacht, was es bedeutet, zur Ruhe zu kommen, und welche Kriterien es dazu benötigt. Es sind Kriterien für akustische und visuelle Ruhe. Das überrascht. Ruhe kann also nicht in Dezibel gemessen werden. Zudem gibt es viel mehr visuelle als akustische Faktoren, um die Qualität der Ruhe zu eruieren. Für einige Kriterien gehört beides zusammen, beispielsweise sieht und hört man ein Flugzeug oder eine Stadt. Je nachdem, ob Kriterien zur Ruhe beitragen oder diese vermindern, werden sie als positiv oder negativ bewertet. Ein Wasserfall zum Beispiel ist zwar laut, trägt aber zur Ruhe bei.

Völlige Ruhe unmöglich
Das Vereinigte Königreich ist ein Vorreiter im Bereich Landschaftswissen und Landschaftsforschung. In der Schweiz existiert keine statistisch relevante Befragung der Bevölkerung zur Ruhe. Man geht davon aus, dass es in der Schweiz ein anderes Verständnis von Ruhe gibt, als es die Engländer*innen haben. Das Wort «Tranquillity», das in England in diesem Zusammenhang verwendet wird, bedeutet zwar Ruhe, aber eher im Sinne von Gelassenheit. Für uns in der Schweiz dürfte Ruhe eher die Abwesenheit von Lärm bedeuten. Es gibt aber keine völlige Ruhe – ausser der Totenstille. Selbst in einem schalldichten Raum hören wir etwas: nämlich unseren Blutkreislauf. 

Schaffhausen an der Spitze 
Dass es nicht zwingend das Mittelmeer sein muss, um zur Ruhe zu kommen, beweist die sogenannte «Tranquillity Map» der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL). Diese Karte listet im Mittelland 53 Gebiete auf, in denen es eine hohe Ruhequalität gibt. Diese Gebiete weisen eine Mindestgrösse von 5 km2 auf und sind wenig zerschnitten und verbaut – und relativ gut erreichbar mit dem öffentlichen Verkehr (ÖV). Zwei Drittel der Gebiete liegen ausserhalb der nationalen Schutzgebiete. Gerade deshalb weist die SL darauf hin, dass die Gemeinden für die Gebiete eine grosse Verantwortung tragen. Mit der Karte haben sie die Möglichkeit, beschauliche, nicht motorisierte Erholung zu fördern, das ÖV-Angebot gezielt zu stärken und die betreffenden Gebiete vor Störungen durch Bauten und Verkehrsachsen zu bewahren. 
Der Kanton Bern verfügt mit 14 über die meisten solcher Gebiete, der Kanton Schaffhausen ist flächenmässig Spitzenreiter. Die drei identifizierten Schaffhauser Gebiete umfassen 39 km2, was 13% der Gesamtfläche des Kantons entspricht. Der Hallauerberg ist eines dieser Gebiete. Er ist kein Waldgebiet, weist aber eine höhere Ruhequalität auf als der Wald in seiner Nähe. Ein weiteres Gebiet ist der Südranden (Beringen, Neunkirch, Wilchingen und Neuhausen am Rheinfall). Im östlichen Kantonsteil befindet sich das dritte Gebiet. Es umfasst die Gegend von Hemishofen, Stein am Rhein und Ramsen.

Pandemie ausschlaggebend
Raimund Rodewald, Geschäftsleiter der SL, erklärt, wie es zur «Tranquillity Map» gekommen ist: «An Ostern 2020, nach dem ersten Lockdown, gab es einen grossen Ansturm in die üblichen Gebiete. Selbst Naturschutzgebiete wurden überrannt, es wurde wild campiert, die Abfallberge stapelten sich. Da habe ich eine alte Idee aus England wieder aufgenommen. Dort gibt es seit den 1990er-Jahren Studien zur <Tranquillity>.» Rodewald sagte sich, es müssten doch Ruhegebiete in der Nähe von Städten zu finden sein, um den Stau am Gotthard oder überfüllte Züge zu vermeiden. Gebiete, die vor der Haustüre liegen und per Velo oder zu Fuss zu erreichen sind. Deshalb nahm er Kontakt auf mit Adrienne Grêt-Regamey vom Lehrstuhl Planung von Landschaft und Urbanen Systemen (PLUS) der ETH Zürich, um mithilfe ihres Teams die englische Studie auf die Schweiz zu übertragen. Schon im Sommer 2020 konnte sie präsentiert werden. Von den 44 englischen Kriterien wurden rund 30 für die Schweiz übernommen und auf die Schweizer Verhältnisse adaptiert – beispielsweise gibt es in der Schweiz kein Meer –, entsprechend gewichtet und mit dem bereits vorhandenen Material modelliert. Es gab also keine Befragung wie in England, die Daten wurden mit dem vorhandenen Material generiert. 

Puffer von 200 m
Das Raster für die Studie beträgt eine Hektare (100 m x 100 m). «Ursprünglich wollte ich Räume von 10 km2 ausscheiden, was dem Wildnispark Sihlwald entspricht. Das hätte nur neun Gebiete ergeben. Die Verkleinerung auf 5 km2 führte zu einem grossen Sprung auf 53 Gebiete. Der entscheidende Faktor war, dass die Gebiete nicht zerschnitten sein dürfen. Denn das Mittelland ist besonders dicht besiedelt und entsprechend zerschnitten. Die Studie zeigt deshalb auch auf, wie nüchtern sich die Situation im Mittelland präsentiert durch die Siedlungstätigkeit», so Rodewald. Deshalb wurde mit einem Puffer von 200 m zu Strassen und Siedlungen gerechnet. In dieser Entfernung, so die Annahme, seien die akustischen Auswirkungen gering. «Im Detail stimmt dies nicht immer, denn es kommt auf die Topografie und die Windverhältnisse an», ist sich der Geschäftsleiter der SL bewusst. 

Landschaft als Klangraum
Allerdings: Diese Gebiete qualitativer Ruhe sind nicht spektakulär wie der Creux du Van im Neuenburger Jura. «Das ist der springende Punkt: Ausser Naturklängen findet nichts statt. Es sind Alltagslandschaften von hoher Qualität, die zu innerer Ruhe führen», fasst es Raimund Rodewald zusammen. Vor allem natürlicher, unberührter Wald strahlt Ruhe aus. Sehen Engländer*innen an jeder Ecke Holzbeigen, ist das für sie ein negatives visuelles Kriterium. Das positive akustische Kriterium schlechthin ist Vogelgesang. Rodewald sagt dazu: «Spannend ist, dass sich Vögel – vor allem die Singdrossel – ihren Klangraum aussuchen für ihren Gesang, damit dieser in die Weite getragen wird. Das kommt nicht von ungefähr: Ein alter Hochwald hat die Akustik einer Kathedrale.» Ins Schwärmen gerät Rodewald übers Osterfingertal. «Das Osterfingertal ist ein akustisches Juwel. Das Dorf liegt in der Mitte einer Arena, vergleichbar mit der Arena in Verona. Die Klänge von Mensch und Tier werden transportiert und ergeben eine grosse akustische Bühne mit angenehmen Klängen. Dies deshalb, weil es keine Durchgangsstrasse gibt.»

Bewusstsein wecken
Auf die Frage, was Gemeinden nun mit der «Tranquillity Map» anfangen können, sagt Raimund Rodewald: «53 Gebiete hoher qualitativer Ruhe sind viel. Man muss ihnen aktiv Sorge tragen. Damit stossen wir aber noch auf taube Ohren. Immerhin ist der Kanton Zürich auf uns zugekommen und will <Tranquillity> für den Richtplan im Zusammenhang mit seiner Landschaftskonzeption bearbeiten. In Schaffhausen ist das leider kein Thema, trotz der Grösse der drei Gebiete.» Rodewald hat eine Reihe von Vorschlägen ausgearbeitet, die er dem Regionalen Naturpark Schaffhausen unterbreitet hat. Aber die Reaktion ist die Angst, dass dann die Gebiete überrannt werden. «Das ist ein Trugschluss», so Rodewald, «unser Angebot ist das Nichts, nur das Gebiet selbst. Wenn man die Leute mit dieser Ruhequalität vertraut macht, dann werden sie sich dieser Werte bewusst. Wie über Biodiversität muss man auch über <Tranquillity> kommunizieren, um sie zu schützen und zu fördern.» 

Ruhe als Haltung
Er betont, dass es der SL nicht darum gehe, Wandernde oder Velofahrer*innen zu vertreiben. Sie wolle darauf aufmerksam machen, dass Ruhe im Grunde eine Haltung sei. Es gehe darum, einen anderen Weg für die Zukunft einzuschlagen: weg vom motorisierten Verkehr und hin zum Unterwegssein mit dem Velo oder zu Fuss. «Beispielsweise geht es darum, mit Bewilligungen für Feste sehr sparsam zu sein. Es wäre toll, wenn der Naturpark Schaffhausen sich des Themas Ruhe annehmen würde.» So hat Rodewald einen Klangweg angeregt und selbst Führungen im Klettgau gemacht. Und er beginnt zu schwärmen vom Häming, dem Hügelzug zwischen Guntmadingen und Neunkirch. «Dort taucht man ein in einen anderen Klangraum. Die Wege drehen sich im Kreis, man ist schnell einmal verloren. Es wäre schön, wenn man darauf schauen würde, dass dort keine Velostrecke durchführt.» Auch die Möglichkeit, gewisse Gebiete mit dem Auto befahren zu können, sieht Rodewald kritisch: «Ich finde die Parkplätze am Südranden am Wochenende problematisch. Mit 21 km2 ist es eines der grössten <Tranquillity>-Gebiete. Deshalb erachte ich die Durchfahrt von Osterfingen nach Neunkirch über den Rossberg mit dem Auto als heikel. Im deutschen Teil dieser Gegend, um Jestetten herum, kommt man mit dem Auto gar nicht hin.» 

Béatrice Eigenmann, forumKirche, 27.07.2023


Ruhegebiete im Kanton Thurgau
1.    Wigoltingen, Raperswilen, Müllheim, Homburg
2.    Hüttlingen, Thundorf, Felben-Wellhausen
3.    Basadingen-Schlattingen (TG), Truttikon (ZH), Stammheim (ZH), Schlatt (TG), Ossingen (ZH)
4.    Laufen-Uhwiesen (ZH), Trüllikon (ZH), Schlatt (TG), Flurlingen (ZH), Feuerthalen (ZH), Benken (ZH)
5.    Wila (ZH), Turbenthal (ZH), Mosnang (SG), Fischingen (TG), Fischenthal (ZH), Bauma (ZH)


■ Weitere Informationen zur «Tranquillity Map»: www.sl-fp.ch

Das Gebiet Hallauerberg mit Blick auf Hallau und Reben
Quelle: Béatrice Eigenmann
Das Gebiet Hallauerberg mit Blick auf Hallau und Reben

 

 

Osterfingertal
Quelle: Béatrice Eigenmann
Das Osterfingertal mit Osterfingen im Zentrum bildet eine Klangarena.

 

 

Raimund Rodewald
Quelle: zVg
Raimund Rodewald, Geschäftsleiter Stiftung Landschaftsschutz Schweiz

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