Versöhnung aus theologischer Sicht 

Im Juden- wie im Christentum ist die Vergebung der Schuld von grosser Bedeutung. Es betrifft den einzelnen Menschen, seinen Mitmenschen und Gott. Es geht darum, selbst vergeben zu können und Vergebung zu erfahren. Die beiden Religionen setzen dabei unterschiedliche Schwerpunkte. 

Anfang Oktober wurde Jom Kippur begangen, der Versöhnungstag, höchster jüdischer Feiertag. Etwa 25 Stunden wird streng gefastet (keine Nahrungs- und Genussmittel, keine Körperpflege und keine sexuelle Betätigung). Kinder und Kranke fasten nicht. Die Nacht und der Tag gehören dem Gebet und der Besinnung. Viele gehen in die Synagoge, auch Menschen, die man dort selten sieht. In Israel steht alles still: Fernsehen, Radio, Auto, Busse und Flugzeuge. Im Gottesdienst wird das grosse Schuldbekenntnis gesprochen – in der Wir-Form. Dann folgen die Bitten um Vergebung an den Ewigen.
Zu Jom Kippur gehören die zehn Tage davor zwingend dazu: Erst wird das jüdische Neujahr - Rosch haschana - gefeiert. Danach folgt die Besinnung: Man schreibt Briefe, telefoniert und besucht Menschen, um sie um Verzeihung zu bitten, und gewährt selbst Vergebung. Denn die Schuld zwischen Menschen muss zwischen Menschen gelöst werden. Der Ewige verzeiht nicht an deren Stelle. 

Gott, Mensch und Mitmensch
Die sogenannten Zehn Gebote in der Hebräischen Bibel definieren die Basis der Sünde für die jüdische wie christliche Gemeinschaft. Dabei gehören Mensch, Mitmensch und Gott zusammen. Was Menschen verletzt, verletzt immer auch die Beziehung zu Gott. Jesus schliesst sich dieser Auffassung an. «Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst (in Jerusalem!) und es fällt dir dort ein, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe vor dem Altar; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder! Dann komm zurück und bring deine Opfergabe dar.» (Mt 5,23) 
Im «Vater Unser» heisst er seine Freund*innen (in der Wir-Form) zu beten «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern». Schon bei Jesus Sirach heisst es: «Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deine Sünden vergeben». (27,2) Wer vergibt, wird selbst Vergebung (das Wort kommt von Gabe) erfahren. 
Wer Gottes Vergebung überreich erfährt, sollte selbst auch leichter verzeihen können. Jesus betont dies besonders im Gleichnis vom Schuldner, der dem König eine grosse Summe schuldet. Dieser erlässt ihm die Schuld, doch der Beschenkte zeigt sich unbarmherzig einem Mann gegenüber, der ihm wenig schuldet. Jesus erinnert an Gottes Geschenk, seine grosse Vergebung. Dies soll auch uns zur Vergebung ermutigen.

Was bedeutet Vergebung?
In der Hebräischen Bibel steht: «Du sollst dich nicht rächen, auch nicht an deinem Zorn festhalten. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (wörtlich: denn er ist wie du). Ich bin der Ewige.» (Lev 19,18) Rache wird abgelehnt. Zornig kann man werden. Doch der Umgang mit der Wut liegt in der eigenen Hand. Man darf sie nicht festhalten oder füttern! Denn der*die andere ist wie wir, die Selbst- und Nächstenliebe ist die Basis der Aufforderung. Der Ewige steht uns dabei bei.

Vergebung durch die Kirche
Im Christentum wird die Sündenvergebung mit Jesus verbunden. «Petrus antwortete ihnen: Kehrt um und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung seiner Sünden.» (Apg 2,38) Die individuelle Sündenvergebung wird mit der Taufe verbunden. Diese ist notwendig für das ewige Leben. Denn der Kirchenvater Augustinus legte fest: Jeder Mensch wird in Sünde geboren (Erbsünde) und kann darum nur durch die Taufe in die ewige Seligkeit gelangen. Pelagius lehnte diese Auffassung ab, doch wurde er dafür auf dem Konzil 431 n. Chr. verurteilt. Damit war die Taufe heilsnotwendig. Deren Vergebung konnte durch schwere Sünden verloren gehen. Durch die Beichte wurde die Umkehr zu Gott, aber auch in die kirchliche (und damit früher auch die soziale) Gemeinschaft wieder möglich. Heute beichten viele Katholik*innen nicht mehr, doch gute Beichtgespräche können in der Seelsorge eine Stütze sein.
Die Kirche hat eine wichtige Funktion: Ihre Vertreter*innen taufen und erteilen im Namen Jesu die Lossprechung von den Sünden. Damit entsteht eine neue Konstellation: Gott, Jesus/Kirche, Mensch und Mitmensch. Das Christentum individualisiert die Vergebung, denn das Schuldbekenntnis wird in der Ich-Form gesprochen. Und sie wird institutionalisiert von der Kirche vollzogen. 

Christiane Faschon, 19.10.2022
 

Versöhnung
Quelle: shutterstock.com
Ein Schritt aufeinander zu ermöglicht Versöhnung.

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