Stellungnahmen zur bischöflichen Erklärung zur «Ehe für alle»

Kurz nachdem der Ständerat Anfang Dezember 2020 dem Gesetzesentwurf zur «Ehe für alle» zustimmte, veröffentlichte die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) eine Erklärung zu diesem Thema. Der Theologe und Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki versucht diese Erklärung einzuordnen. Meinungen dazu haben aber auch der katholische Pfarreileiter Christian Leutenegger und die Präsidentin der evang. Kirchgemeinde Kreuzlingen, Susanne Dschulnigg.

Nachdem der Nationalrat im Sommer 2020 mit einem deutlichen Ja die «Ehe für alle» angenommen hat, zog der Ständerat Anfang Dezember des letzten Jahres nach. Bis zuletzt umstritten war die Frage, ob verheiratete lesbische Paare Zugang zur Samenspende erhalten sollen. Festgehalten wurde, dass die Ehefrau der Mutter auch als Mutter des Kindes gilt, wenn dieses gemäss den Vorgaben im Fortpflanzungsmedizingesetz gezeugt worden ist. Das beinhaltet, dass eine Samenspende im Ausland nicht möglich ist, um sicherzustellen, dass das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung gewährleistet ist. Nicht Bestandteil der «Ehe für alle» ist die Leihmutterschaft, mit der auch verheiratete Männer-Paare Kinder bekommen könnten. Auch die Hinterlassenenrente wurde ausgeklammert, um die Vorlage nicht zu überlasten. Trotzdem ist die Zustimmung beider Kammern zur vor sieben Jahren ursprünglich von den Grünliberalen auf den Weg gebrachten Initiative ein gesellschaftspolitischer Meilenstein. Wird die bereinigte Vorlage in der Schlussabstimmung angenommen, können eingetragene Partner*innen künftig ihren Zivilstand in eine Ehe überführen. 

Chur unterstützt Referendum

Auf den Nationalratsentscheid hin, veröffentlichte die SBK im Dezember auf ihrer Homepage eine Erklärung (www.bischoefe.ch), in der sie zwischen Diskriminierung und Differenzierung unterscheidet, «um den Interessen von Minderheiten mehr Gewicht zu verleihen». Die SBK erklärt, dass sie die Fortpflanzungsmedizin generell ablehne, also auch für heterosexuelle Paare, weil sie «Keimzellenspenden erfordert und im Widerspruch zu den Rechten des Kindes steht». Die SBK sieht die Zivilehe auf die Familiengründung ausgerichtet und hält abschliessend fest, dass sie sich «auf dem Hintergrund der Hauptkompetenz der katholischen Kirche im Bereich des Ehesakraments, nicht für den Entwurf «Ehe für alle» aussprechen kann». Bereits im Raum steht ein Referendum der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) gegen die Vorlage zur «Ehe für alle». Die EDU stört sich daran, dass die gleichgeschlechtliche Ehe ohne Verfassungsänderung eingeführt werden soll. Auch die Samenspende für lesbische Paare findet die Partei «rechtlich und moralisch bedenklich». Das Bistum Chur hat Anfang Januar ebenfalls eine Erklärung auf ihrer Homepage publiziert, in der die bischöfliche Kanzlei Chur alle Priester, Diakone und kirchlichen Mitarbeiter*innen direkt dazu auffordert, das Referendum der EDU zu unterstützen, da die «Ehe für alle» aus «Sicht der katholischen Kirche sowie aufgrund der christlichen Definition von Ehe und Familie abzulehnen ist». 

Sarah Stutte, forumKirche, 26.1.21


Thomas Wallimann-Sasaki, Sozialethiker und Theologe, Leiter des sozialethischen Instituts ethik22

Hat die katholische Kirche ein Recht bzw. eine Pflicht, in diesem Gesetzesverfahren Stellung zu beziehen?

Ich denke schon. Da die christliche Religion mit unserm Leben zu tun hat, darf die Kirche sich auch dazu äussern, wenn Fragen zur Lebensgestaltung in der Politik und in der Gesellschaft diskutiert werden. Sie sieht es auch als ihre Pflicht an. Sie muss allerdings wissen, dass sie eine Stimme von vielen ist. So wie sie sich zur Konzernverantwortungsinitiative geäussert hat, darf sie sich auch zur «Ehe für alle» äussern. 

Was löst sie damit aus?

Im positivsten Fall löst sie einen konstruktiven Diskurs aus über die Art und Weise, wie wir zusammenleben. Für unsere moderne Gesellschaft wäre es wichtig, dass man darüber redet, was eigentlich der Sinn des Zusammenlebens ist und auf was wir ganz konkret bei Partnerschaft, Ehe und Familie achtgeben müssen. In der christlichen Ethik ist das immer verbunden mit der Frage: Wer sind die Leidtragenden? Ist es zum Wohl von denen, die am Rand der Gesellschaft stehen?

Deswegen auch der Verweis der SBK auf das Kindeswohl?

Ja, das ist spannend, dass das Kindeswohl von den Bischöfen betont wird. In der Vergangenheit hat die katholische Kirche in Fragen der Sexualmoral immer rein naturrechtlich argumentiert, also mit dem Willen Gottes. Das macht die SBK in ihrer Erklärung fast nirgends. Sie argumentiert in dieser Erklärung von den Folgen, vom Kindeswohl her. Doch damit stellt sich die Frage, ob man dann diese Frage nicht auch bei der traditionellen Ehe stellen müsste?

Ja, sie sieht im Zusammenhang mit der «Ehe für alle» die Gefahr, dass das Recht auf Kinder und die Zuhilfenahme der Fortpflanzungsmedizin unhinterfragt legitimiert wird. Ist diese Sorge berechtigt, bzw. diese Verknüpfung zulässig?

Ich denke, zulässig ist die Sorge wie auch die Frage auf jeden Fall. Man muss tatsächlich aufpassen. Die SBK weist zu Recht darauf hin, dass es kein «Recht auf ein Kind», aber «Rechte des Kindes» gibt. Die Kinderfrage ist heute tatsächlich brisant, weil das Kinderbekommen nicht mehr selbstverständlich ist. Wir wissen, dass auch viele heterosexuelle Paare damit grosse Mühe haben, mehr als in der Vergangenheit, und dass der Kinderwunsch etwas Besonderes in unserer Gesellschaft geworden ist. 
Ausserdem beobachte ich in unserer Gesellschaft nach wie vor die Haltung, dass alles machbar ist, alles funktionieren muss. Kinder werden somit wieder zum Besitz von Eltern. Sie drohen dann zum einzigen «Vorzeigezeichen» von Beziehungen zu werden. Es fehlen uns also Modelle, darüber nachzudenken, wie wir Partnerschaft leben können, wenn nicht das Kind im Mittelpunkt steht. Ich denke, Kinder stehen dafür, dass Beziehung nie eine Zweierangelegenheit ist. Eine Paarbeziehung - egal ob hetero- oder homosexuell – ist immer auch auf etwas Drittes ausgerichtet. Sie geht nach aussen, sie geht weiter. Kinder sind das biologische Beispiel dafür. Jede Zweierbeziehung sollte in die Zukunft wirken, etwas in der Welt hinterlassen, gestalterisch sein. Wenn man das aber nur auf Kinder fokussiert, engt man diesen Gedanken unglaublich ein. Darum gilt es aufzupassen, dass man nicht einem Machbarkeitsdenken verfällt. Die moderne Fortpflanzungsmedizin verstärkt diese Gefahr. Und das darf man hinterfragen. Denn zum Leben gehört – auch dies als Ausweitung der Fragestellung zum Kinderwunsch - immer auch der Verzicht, auch der unfreiwillige Verzicht. 

Und das gilt nicht nur für gleichgeschlechtlichen Paare…

Ja, das trifft alle Paare, die Kinder bekommen möchten. Aber dies akzentuiert sich natürlich bei gleichgeschlechtlichen Paaren, weil sie aus biologischen Gründen keine Kinder bekommen können. Wenn in der Diskussion über gleichgeschlechtliche Partnerschaft so auf biologische Kinder insistiert wird, muss man aufpassen, dass man Partnerschaft und Ehe nicht plötzlich nur noch als Elternschaft sieht – einen Kurzschluss, den man ja zu oft der kirchlichen Sexual- und Ehemoral vorwirft. Denn in der traditionellen katholischen Lehre ist die heterosexuelle Partnerschaft aufs engste mit der Zeugung von Nachwuchs verbunden. Das hat damit zu tun, dass Kinder früher den Eltern Sicherheiten boten – also auch eine Art Sozialversicherung waren.

Die SBK stört sich daran, dass für die zivilrechtlich legitimierte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau bzw. von gleichgeschlechtlichen Paaren der gleiche Begriff «Ehe» verwendet wird. Was spricht für eine solche Differenzierung? 

Da habe ich weniger Mühe damit, dass der gleiche Begriff verwendet wird. Hier drückt in der Kritik der Bischöfe die klassische Ehemoral durch, die Ehe als Institution zwischen heterosexuellen Paaren versteht, die auf Nachwuchs ausgerichtet ist. Mir stellt sich eine andere Frage: Wie gehen wir mit Unterschieden in unserer Gesellschaft um - unter der gleichzeitigen Forderung von Gleichberechtigung? Wie respektiere ich Anderssein? 
Es ist wie in der Rassismusdiskussion. Dass es keine Rassen gibt, ist zwar genetisch zutreffend, doch wer darum fordert, dass man das Worte "Rasse" nicht brauchen darf, macht jene, die unter Rassismus leiden, dann schnell unsichtbar. D. h. nimmt ihnen genau jenes Unterscheidungsmerkmal, das ihre Diskriminierung begründet. Gleichwertigkeit droht dann zu schnell mit Gleichheit verwechselt zu werden. Denn wir wissen und spüren ja, dass wir verschieden sind. Wenn man also zu viele Dinge gleich macht, muss man aufpassen, dass man nicht Differenzierungen aushebelt, die trotzdem da sind. Doch darüber reden wir viel zu wenig. Die Kunst ist, wie bringe ich die Gleichwertigkeit aller Menschen zum Ausdruck und nehme gleichzeitig Rücksicht, dass wir wie auch Beziehungen verschieden sind.

Dann müsste man einen neuen Begriff erfinden für diese Lebensform…

Wir haben ja den rechtlich verwendeten Begriff "eingetragene Partnerschaft". Die rechtlichen Fragen kann man immer lösen, das ist keine Kunst. Man kann für homosexuelle Paare die absolut identischen Rechtsgrundsätze postulieren wie beim Eheartikel in der Bundesverfassung. Aber ich denke, darum geht es gar nicht. Den Menschen, die betroffen sind, geht es um mehr als um eine rechtliche Regelung.

Um was geht es ihnen?

Um das, was wir in der katholischen Kirche mit Sakrament bezeichnen, dass man weiss, dass das Zusammenleben zweier Menschen auch etwas Heiliges ist, eben die Liebe betrifft. Die rechtliche Anerkennung ist nur ein Teil einer Beziehung. Eigentlich suchen Menschen die gesellschaftliche Anerkennung, die ihre Beziehung als etwas Heiliges, auch als Geheimnis akzeptiert und öffentlich sichtbar und damit anerkennbar macht. 
Der Staat bringt mit dem Begriff «Ehe» sowohl die rechtliche als auch die «heilige» Seite der Partnerschaft zum Ausdruck. Im Begriff «eingetragene Partnerschaft» fehlt die zweite Seite, auch wenn standesamtliche Trauungen oft heute schon mehr Ritual als blosser Rechtsakt sind. Die Kirche täte gut daran, ihr eigenes Eheverständnis kritisch zu revidieren. Man könnte sich fragen, was suchen Menschen eigentlich, wenn sie von Ehe reden? Wie antwortet die Kirche auf dieses Bedürfnis durch ihre Kompetenz, dem Heiligen einen Rahmen und eine Form zu geben? Das sind die entscheidenden Fragen und diese greifen die Bischöfe in ihrer Erklärung nicht auf.

In der Erklärung wird behauptet, «dass es für gleichgeschlechtliche Paare vorteilhafter wäre, wenn die geltende Gesetzgebung im Hinblick auf die registrierte Partnerschaft angepasst würde, anstatt eine 'Ehe für alle' einzuführen.» Können Sie dem zustimmen? Und worin sollte der Vorteil für gleichgeschlechtliche Paare bestehen?

Wie eben gesagt: wenn dieser Weg beschritten würde, bräuchte sich die SBK keine Gedanken mehr zu machen über ihr Eheverständnis, müsste die katholische Kirche nicht ihre eigene Sexualmoral hinterfragen. Man müsste sich dann der Frage stellen, ob die Sexualmoral der Kirche nicht oft der Machterhaltung dient und weniger ethische Orientierung für mündige Menschen ist. Dass es hier um innerkirchliche Machtfragen geht, zeigt sich auch daran, dass die Einstellung zur kirchlichen Sexualmoral bis heute ein wichtiges Kriterium ist, ob man Theologieprofessorin oder Bischof werden kann. 

Was lässt die Erklärung ausser Acht? 

Sie ignoriert, dass die Menschen über eine rechtliche Gleichstellung hinaus etwas Anderes suchen, nämlich dass sie so, wie sie sind, respektiert werden, und dass in ihrer Beziehung etwas Heiliges mitschwingt. Und sie geht auch nicht darauf ein, dass über diese Fragen geredet werden müsste. 

Wie beurteilen Sie die Stellungnahme insgesamt?

Ich finde sie spannend, weil sie nicht den klassischen, verengten naturrechtlichen Ansatz bringt, der Homosexualität zwar als Realität akzeptiert, das gelebte Sexualleben aber verurteilt. Interessant ist also, was nicht gesagt wird. Traditionell sagt die katholische Kirche, Homosexualität ist keine Krankheit, sie ist von Gott gegeben, aber homosexuelle Partnerschaften sexuell zu leben sind nicht erlaubt. Davon ist hier nicht die Rede. Sie spricht homosexuellen Menschen viel Akzeptanz zu. Es wird nirgends gesagt, dass sie nicht zusammenleben dürfen, dass eine eingetragene Partnerschaft nicht dem Willen Gottes entspricht. 
Stattdessen argumentiert sie von den Folgen her, indem sie das Kindeswohl und die Fortpflanzungsmedizin ins Zentrum stellt. Sie wirft damit die Frage nach der generellen Machbarkeit auf: Kann ich alles haben, was ich mir wünsche? Dies trifft aber auch das traditionelle Familienbild. Damit bietet sie viele – auch neue - Ansatzpunkte zum Weiterdiskutieren.

Wie beurteilen Sie die Empfehlung des Bistums Chur an seine kirchlichen Mitarbeiter*innen, sich für ein Referendum in dieser Angelegenheit zu engagieren?

Ich musste schmunzeln. Vertreter des Bistums Chur weisen oft darauf hin, die Kirche solle sich nur dann äussern, wenn es um zentrale Lebensfragen geht. Das kann man so sehen. Es bleibt trotz allem die Frage, warum Chur Plakate für die Konzernverantwortungsinitiative verbot, wo es doch um Menschenrechte und den Schutz von Benachteiligten und Umwelt ging – und jetzt quasi eine klare «Abstimmungsempfehlung» herausgibt, wo es primär um eine rechtliche Gleichstellung geht. 

Detlef Kissner, forumKirche, 26.1.21
 


Susanne Dschulnigg, Präsidentin der evang. Kirchgemeinde Kreuzlingen

Wie stehen Sie grundsätzlich zur «Ehe für alle»?

Die Ehe ist für mich eine rechtliche Verbindung zweier Menschen. Für mich ist deshalb völlig klar, dass die Ehe nicht für bestimmte Paare reserviert ist. Die Ehe ist auch keine von Gott gegebene Form. Es geht um rechtliche Möglichkeiten und um Absicherung. Mit einer Ehe geht man eine Verbindung zu einem anderen Menschen ein und es muss Möglichkeiten geben, um diese Verbindlichkeit für Menschen auch greifbar zu machen.

Nach Ansicht der SBK birgt die Initiative auch die Gefahr, dass damit das Recht auf Kinder und die Zuhilfenahme der Fortpflanzungsmedizin ohne Hinterfragung legitimiert wird. Ist diese Sorge berechtigt bzw. diese Verknüpfung zulässig?

Ich finde sie nicht zulässig. Die Diskussion um die Fortpflanzungsmedizin muss separat geführt werden, denn es gibt auch heterosexuelle Paare, die davon betroffen sind, weil sie keine Kinder bekommen können. Die Vorlage schliesst die Samenspende für verheiratete lesbische Paare gemäss den Vorgaben im Fortpflanzungsmedizingesetzes nun mit ein und sie sollte auch so angenommen werden. In der Bibel ist der Begriff Ehe sehr stark mit der Fortpflanzung verknüpft. Darauf beruft sich auch die EDU in ihrem Referendum. In meinem Verständnis bedeutet eine Ehe jedoch mehr als nur Mittel zum Zweck damit die Menschheit nicht ausstirbt. Das ist für mich eine ganz enge Auslegung, die ich nicht nachvollziehen kann. 

Die SBK stört sich daran, dass für die Lebensgemeinschaft von Mann und Frau sowie von gleichgeschlechtlichen Paaren der gleiche Begriff «Ehe» verwendet werden soll. Was spricht für eine Differenzierung? 

Wenn man die Ehe als reine Verbindung von Mann und Frau definiert, besetzt man sie damit. Gibt es denn eine minderwertige Form? Diese Fragestellung finde ich gesellschaftspolitisch wichtig. Ist die Art und Weise, wie wir jetzt Ehe wahrnehmen, die höchste, die man sich für eine Verbindung oder Legitimierung von Liebesbeziehungen vorstellen kann? Es kommt also darauf an, was für ein Gewicht ich dieser Begrifflichkeit gebe. Grundsätzlich muss der Staat den rechtlichen Boden für die Ehe schaffen. Wie die Kirche das Thema Segnungen handhabt unter ihrer Definition, dass diese Verbindungen unter Gottes Segen stehen, ist ihre Sache. Für die Kirche stellt sich dann aber das Problem, dass sie gewisse Menschen ausschliesst und eine Zweiklassengesellschaft fördert. 
 
Die SBK schreibt, sie sei der Ansicht, dass es besser sei, die geltende Gesetzgebung im Hinblick auf die registrierte Partnerschaft anzupassen, anstatt eine «Ehe für alle» einzuführen. Stimmen Sie dem zu?
Die Differenzierung ist nicht notwendig. Wenn die Ehe von der Kirche derart überhöht wird, würde ich dafür plädieren, dass man sie ganz abschafft und aus staatlicher Sicht nur noch Partnerschaften nach Art des französischen Code civil führt. Wenn die Kirchen sich auf ihr Kirchenrecht berufen, können sie dies tun, für den Staat ist das jedoch undenkbar. Die Ehe wird dann vom «weltlich Ding» nach Martin Luther, zu einem «kirchlich Ding», was vermutlich mit Kirchenaustritten verbunden sein wird.

Eine Volksabstimmung scheint wahrscheinlich. Was würde es für die Kirchen bedeuten, sollte die Vorlage angenommen werden?

Sie muss Position beziehen. Jede*r Kirchenbürger*in kann heute selber entscheiden, ob sie*er die Ehe kirchlich vollziehen möchte. Auch, ob es in solchen Fällen dann sinnvoll ist, sich von einem Pfarrer trauen zu lassen, der nicht zu dieser Segnung stehen kann. Sollte die Vorlage angenommen werden, wird der Weg für die Kirchen nicht einfach sein und sehr viel Fingerspitzengefühl benötigen. Denn sie rüttelt an den Grundfesten sakramentstheologischer Überzeugungen, die lange Zeit gelehrt worden sind. Viele Homosexuelle fühlen sich jetzt schon nicht in den Kirchen willkommen und müssen sich ihre Heimat woanders suchen. Das könnte noch zunehmen, sollten die Kirchen auf ihrem Standpunkt beharren. 

Sarah Stutte, forumKirche, 26.1.21
 


Christian Leutenegger, Mitglied Adamim (Verein schwule Seelsorger Schweiz), Pfarreileiter Wittenbach/St. Gallen


Wie stehen Sie grundsätzlich zur «Ehe für alle»?

Ich bin der Initiative gegenüber sehr positiv eingestellt und finde es schön, dass sowohl National- wie auch Ständerat dazu Ja gesagt haben. Es ist ein Fortschritt für unsere Gesellschaft und ich sehe darin eine grosse Chance.

Was halten Sie von der Stellungnahme der Schweizerischen Bischofskonferenz (SBK)?

Ich habe zwar nichts Anderes erwartet, hätte mir insgeheim aber natürlich trotzdem gewünscht, dass die katholische Kirche einmal über ihren Schatten springen kann. Für mich stellt sich auch die Frage, warum die SBK nach langem Schweigen nun plötzlich Position zur «Ehe für alle» bezieht. Bisher hatte sie mit der Begründung darauf verzichtet, dass in erster Linie die sakramentale Eheschliessung in den Zuständigkeitsbereich der katholischen Kirche falle, nicht aber die Zivilehe. Inhaltlich kann ich nicht verstehen, warum man zivilrechtlich gegen die «Ehe für alle» sein kann. Sich gegen Diskriminierung auszusprechen bedeutet letztlich nicht zu differenzieren. Es gibt keinen Grund, eine Menschengruppe auszuschliessen oder rechtlich anders zu behandeln.

Nach Ansicht der SBK birgt die Initiative auch die Gefahr, dass damit das Recht auf Kinder und die Zuhilfenahme der Fortpflanzungsmedizin ohne Hinterfragung legitimiert wird. Ist diese Sorge berechtigt bzw. diese Verknüpfung zulässig?

In erster Linie geht es in der Vorlage für mich um eine Öffnung der Ehe. Für alle Menschen sollen die gleichen Rechte gelten. Über die genaue rechtliche Auslegung der Fortpflanzungsmedizin mitsamt deren Nutzen und Risiken kann zu einem späteren Zeitpunkt befunden werden. Eine Gesellschaft gewichtet diese Fragestellungen auch nochmals anders als eine katholische Kirche. Zur vorliegenden Lösung könnte ich persönlich ja sagen. Auch hierbei gilt, dass Diskriminierungen zu vermeiden sind und für alle dieselben Möglichkeiten und Verbote definiert werden, unabhängig von der sexuellen Orientierung.

Die SBK stört sich daran, dass für die Lebensgemeinschaft von Mann und Frau sowie von gleichgeschlechtlichen Paaren der gleiche Begriff «Ehe» verwendet werden soll. Was spricht für eine Differenzierung? 

Sie muss begründet sein. Wenn zwei Menschen eine zivilrechtliche Lebensgemeinschaft miteinander eingehen wollen und damit Verantwortungen und Verpflichtungen übernehmen, wird das Ehe genannt. Es ist egal, ob damit heterosexuelle oder homosexuelle Menschen gemeint sind. Die kircheninterne Auslegung hat nichts mit der zivilrechtlichen zu tun.

Beansprucht die Kirche den Begriff Ehe zu sehr für sich? 

Historisch betrachtet hat die zivile Ehegemeinschaft schon ihre Ursprünge im christlichen Glauben. Die Kirche ist jedoch Teil einer Gesellschaft, die sich stetig verändert. Sie kann diese durchaus kritisch begleiten, sich aber auch von ihr herausfordern lassen, die Ehe nochmal neu zu fassen und neu zu verstehen. Eine kritische Betrachtungsweise sollte immer auch nach innen funktionieren. Im Moment steckt die Kirche jedoch eher in ihrer Abwehr- und Verweigerungshaltung fest. Sie nimmt zwar wahr, dass eine gesellschaftliche Entwicklung passiert, hat aber das Gefühl, das ginge sie nichts an. Das ist falsch. 

Die SBK schreibt, sie sei der Ansicht, dass es besser sei, die geltende Gesetzgebung im Hinblick auf die registrierte Partnerschaft anzupassen, anstatt eine «Ehe für alle» einzuführen. Stimmen Sie dem zu? 

Nein, es geht auch um die Wirkung einer Begrifflichkeit. Eine «Ehe für alle» fördert das Bewusstsein und Verständnis dafür, dass damit eine Verbindung zwischen zwei Menschen gemeint ist. 

Das Bistum Chur macht offiziell mobil für das Referendum. Bei der Konzernverantwortungsinitiative stellte es sich noch auf den Standpunkt, dass die Kirche sich nicht politisch einmischen dürfe – ist das kein Widerspruch?

Für mich schon. Betrachtet man die Geschichte, hat sich die katholische Kirche immer schon eine strenge Linie bei Thematiken die Sexualmoral oder Familie betreffend, auf die Fahne geschrieben und wichtige andere sozialethische Themen vernachlässigt. Die Hinterfragung wirtschaftlicher Gerechtigkeit und unserem Handeln diesbezüglich ist für mich jedoch genauso relevant. Aus der Tradition des Bistums Chur heraus ist diese Reaktion aber verständlich, denn es transportiert für mich das alte Bild einer katholischen Kirche, die sich das Recht herausnimmt, endgültig zu definieren, was Gültigkeit hat und was nicht.

Sarah Stutte, forumKirche, 26.1.21
 

 

Durch die «Ehe für alle» sollen verheiratete lesbische Paare auch Zugang zur Samenspende erhalten.
Quelle: pixabay.com
Durch die «Ehe für alle» sollen verheiratete lesbische Paare auch Zugang zur Samenspende erhalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dr. Thomas Wallimann-Sasaki leitet das Institut ethik22 seit 1999.
Quelle: zVg
Dr. Thomas Wallimann-Sasaki leitet das Institut ethik22 seit 1999.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Susanne Dschulnigg
Quelle: zVg
Susanne Dschulnigg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Christian Leutenegger
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Christian Leutenegger

 

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