Seelsorgende setzen sich mit «Missbrauch» auseinander

Im kirchlichen Kontext ist es derzeit Thema Nr. 1: Sexueller Missbrauch. Auch die Seelsorgenden im Kanton Thurgau wollten sich dieser nicht einfachen Problematik stellen und luden dazu Toni Brühlmann zu ihrer Pastoralkonferenz ein. Der Präsident des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) gewährte Einblicke in aktuelle Statistiken und wies auf präventive Massnahmen hin.

«Damals war ich ein 5-jähriges Mädchen. Während meine Mutter im Gesprächszimmer wartete, nahm der Pater mich mit in ein anderes Zimmer, vergewaltigte mich und verbot mir, darüber zu sprechen… Seit damals leide ich unter Bauchschmerzen, Gelenkschmerzen, an Migräne….» Diese und andere anonymisierte Berichte über sexuelle Gewalt und ihre Folgen konnte Toni Brühlmann den Anwesenden nicht ersparen. Denn er ist überzeugt, dass sich die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche nicht «abstrakt» aufarbeiten lassen: «Wir müssen uns diesen Situationen konkret stellen, wahrnehmen, was Menschen widerfahren ist.» Von Seiten der Opfer werde zudem beklagt, zu wenig in ihrem Leid beachtet zu werden. Hier bestehe von Seiten der Kirche noch Handlungsbedarf.

Opfer melden sich erst spät

Auf grosses Interesse stiess die Auswertung der 311 Meldungen zu sexuellem Missbrauch, die im Zeitraum 2010 bis 2017 bei den Schweizer Bistümern eingegangen waren. In den beiden Jahren 2010 und 2017 ist eine auffällig hohe Zahl an Meldungen verzeichnet, da die Betroffenen wohl durch die vorausgegangenen Buss- und Gebetsfeiern der SBK und die damit verbundene Medienarbeit dazu ermutigt wurden. Ausserdem falle auf, so der Referent, dass es sich bei den 30 Fällen, die in den letzten sieben Jahren geschehen seien, um keine schweren Vergehen handle: «Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Opfer erst viel später in der Lage sind, Übergriffe zu melden. Die Zahlen lassen somit keine definitiven Rückschlüsse zu.»

Warum wird aber zur Bestimmung des Ausmasses nicht wie in Deutschland eine externe Kommission eingesetzt, die Einblick in diözesane Archive erhält? Es sei generell sehr schwer, Kriterien für eine Untersuchung festzulegen, die zu verlässlichen Zahlen führt, so Toni Brühlmann: «Auch in Personalakten ist nicht alles verzeichnet.» Die Studie der Deutschen Bischofskonferenz komme von 1946 bis 2014 auf eine Zahl von 3‘677 Opfern im kirchlichen Umfeld. Die Hochrechnung einer repräsentativen Umfrage habe hingegen 114‘000 Betroffene ergeben. Eine grosse Differenz. Deshalb tue sich die SBK schwer, eine solche Studie in Auftrag zu geben.

Selbstwahrnehmung stärken

Einen Schwerpunkt des Treffens stellten präventive Massnahmen dar. Toni Brühlmann machte den Anwesenden bewusst, dass zwischen Seelsorgendem und begleiteter Person immer ein Machtgefälle besteht: «Deshalb bin ich als Seelsorgerin oder Seelsorger verantwortlich für die Gestaltung dieser Beziehung. Ich muss eine vorsichtige, reflektierte Haltung einnehmen, um dem Gegenüber gerecht zu werden.» Es geht um eine ausgewogene Balance von einfühlender Nähe und notwendiger Distanz. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, brauche es eine beständige Selbstreflexion, mit deren Hilfe man frühzeitig Überforderungen oder fehlende Konfliktfähigkeit erkennen könne – Situationen, die ein Fehlverhalten begünstigen. Eine solche selbstkritische Wahrnehmung, so der Theologe und Psychologe, werde vor allem durch lebendige Beziehungen zu Freunden und Arbeitskollegen, aber auch durch Begleitung und Supervision gestärkt.

Verhaltenskodex als Grundlage

Wenn es darum geht, sexuellen Missbrauch zu verhindern, kommt gemäss den Richtlinien der SBK dem Team, in das Mitarbeitende eingebunden sind, eine besondere Bedeutung zu. «Jedes Team soll für sich einen Verhaltenskodex erarbeiten, in dem Standards zur Arbeit festgelegt sind», legte Toni Brühlmann dar. Darin kann beispielsweise geregelt werden, in welchen Räumen Einzelgespräche stattfinden oder wo konkrete Grenzen in der Beziehung zu Jugendlichen verlaufen sollen.

Dieser Kodex bildet die Basis für kollegiale Rückmeldungen, falls in der Seelsorge oder im Team Risikosituationen wahrgenommen werden, d. h. «bei Verdachtsmomenten oder irritierendem Verhalten im Graubereich». Liegt hingegen ein strafrechtlich relevanter Übergriff vor, ist das Krisenmanagement gefragt, das nach standardisierten Regeln abläuft. «Dieses liegt jedoch nicht mehr in der Verantwortung des Teams, sondern ist Sache der Leitung», hob Toni Brühlmann hervor.

Detlef Kissner (27.5.19) 

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Toni Brühlmann ist seit Januar Präsident des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe».

Bild: Detlef Kissner

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