Mit Demenz im öffentlichen Leben integriert bleiben

Das Projekt «Demenzfreundliche Gemeinde Thurgau» soll die Bevölkerung im Thurgau sensibilisieren für die Bedürfnisse von an Demenz Erkrankten. Zudem möchte es diese sowie ihre Angehörigen früh im Krankheitsverlauf unterstützen. Auch Kirchgemeinden können ihren Beitrag leisten, damit Erkrankte möglichst lange eine soziale Teilhabe erleben.

Gemäss Angaben von Alzheimer Schweiz aus dem Jahr 2022 leben rund 150'000 Menschen mit Demenz in unserem Land. Jährlich kommt es zu 32'200 Neuerkrankungen. Dies bedeutet: Alle 16 Minuten erkrankt eine Person an einer Form von Demenz. Rund die Hälfte der Erkrankten hat keine fachärztliche Diagnose. Für 2050 wird prognostiziert, dass es voraussichtlich 315'400 an Demenz erkrankte Menschen geben wird. Der grösste Risikofaktor, um an Demenz zu erkranken, ist das Alter. Pro erkrankte Person sind eine bis drei angehörige Personen betroffen. 

Demenz im Thurgau
Im Kanton Thurgau gibt es 4'485 Menschen mit Demenz. Es wird davon ausgegangen, dass rund 60 Prozent davon zu Hause leben. Denn Demenz wird in drei Phasen aufgeteilt: In der ersten Phase ist ein Leben in den eigenen vier Wänden noch gut möglich, in der zweiten je nach Situation, in der dritten Phase befinden sich die Erkrankten in einer Institution, weil der Pflegeaufwand für das Umfeld nicht mehr zu leisten ist. Wie es Menschen in der ersten und zweiten Phase und ihren Angehörigen geht, weiss Marlene Schadegg, Geschäftsleiterin des Pflegeheims Sonnhalden in Arbon und Vizepräsidentin von Alzheimer Thurgau: «Aufgrund von Gesprächen habe ich das Gefühl, dass sich Angehörige von Menschen mit Demenz vielfach alleine gelassen fühlen. Wir können ihnen Zeit schenken, um zuzuhören oder ihnen mit kleinen Handreichungen wichtige Verschnaufpausen zu gönnen.» 

Ressourcenorientierung
Das Krankheitsbild löse viele Ängste aus und werde als Tabu betrachtet. Sobald ein Verdacht auf Demenz bestehe, würden sich viele dagegen sträuben, eine Untersuchung zu machen. Damit würden sie sich die Chance vergeben, von Beginn an aufgefangen zu werden. Oder sie würden in einer unbegründeten Angst weiterleben, denn auch andere – heilbare – Krankheitsbilder könnten ähnliche Symptome zeigen wie eine beginnende Demenz - beispielsweise eine Depression. «Die Menschen, die vorher aktiv waren im gesellschaftlichen Leben, ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück. Dabei verschlimmert gerade der Rückzug die Situation, denn soziale Integration ist wichtig für eine gesunde Entwicklung im Alter. Es ist zentral, den Prozess so gut wie möglich zu verzögern, damit die Betroffenen so lange wie möglich zu Hause bleiben können, was ja dem Wunsch aller entspricht», erklärt Schadegg. «Soziale Kontakte sind ein Lebenselixier.» Auch den Angehörigen müsse man gut schauen. Deshalb sei eine gesellschaftliche Aufklärung so wichtig. Es könne schon sehr nützlich sein, wenn eine bekannte oder freiwillige Person (ein*e Demenzkamerad*in) mit einem erkrankten Menschen zwei Stunden marschieren gehe, damit die betreuende Person Zeit für sich habe. Es gelte herauszufinden, über welche Ressourcen die Erkrankten verfügten. Deshalb plädiert Schadegg für ein ressourcenorientiertes Denken im Umgang mit Menschen mit Demenz. Es gelte wahrzunehmen, was die Zusatzbedürfnisse seien, damit Erkrankte in der Gesellschaft Hilfestellungen erhielten, aber in ihrer Würde und mit all ihren Fähigkeiten weiter in der Gesellschaft wirken könnten.

Pilotprojekt mit drei Gemeinden
Aus diesem Grund initiierte Alzheimer Thurgau das Projekt «Demenzfreundliche Gemeinde Thurgau». Ziel des Projektes ist es, die Bevölkerung des Kantons für Demenz zu sensibilisieren und zum Mitwirken zu gewinnen, sodass an Demenz Erkrankten die Teilhabe am öffentlichen Leben möglichst lange bleibt. Dabei kommt den Gemeinden eine herausragende Rolle zu. Im November 2021 stand das Konzept, ausgearbeitet von einem Projektteam, in dem neben Marlene Schadegg ein Gemeindepräsident, ein Gemeinderat und Fachstellen wie Alzheimer Thurgau mitwirkten. Seit Januar 2022 läuft das Projekt, zuerst als Pilot, seit Kurzem im Regelbetrieb. 
Am Pilotprojekt haben sich Tobel-Tägerschen, Amriswil und Gachnang beteiligt. Gemäss Schadegg sind diese Gemeinden auf unterschiedlichen Wegen sehr gut unterwegs. Tobel-Tägerschen hat kürzlich durch das Theater Bilitz aus Weinfelden ein Theaterstück zum Thema Demenz aufführen lassen, das alle Generationen abgeholt hat. Die Aufführung war sehr gut besucht. «Auch die Kinder wurden angesprochen. Gerade sie haben einen einfacheren Zugang zu Demenz als Erwachsene. Wir können hoffen, dass sich das Bild über Demenz geändert hat, wenn diese Kinder erwachsen sind», so Schadegg. 

Modularer Leitfaden
Alzheimer Thurgau unterstützt als Koordinationsstelle Gemeinden, die demenzfreundlich werden möchten, während zweier Jahre aktiv und ist danach deren Ansprechpartnerin. In Gesprächen wird herausgearbeitet, welche Module zur Mindestzielerreichung für die betreffende Gemeinde am sinnvollsten sind. Nach zwei Jahren erfolgt ein Rückblick mit einer Evaluation. Darauf setzt die Gemeinde weitere Module um, sodass das Projekt zu einer dauerhaften Aufgabe wird. Das würde bedeuten, dass beispielsweise sowohl ein Gemeindeangestellter wie auch eine Kassiererin im Supermarkt merken, wenn sie eine Person mit Demenz vor sich haben, und dass sie Hilfe leisten können, ohne die Person noch mehr zu verunsichern. Der Leitfaden enthält zurzeit sieben Module: 1) Gemeindeverwaltung, Alterskommission; 2) Gesellschaft und Bevölkerung, Schulen und Jugend; 3) Betreuende und pflegende Angehörige; 4) Kirchen und Vereine; 5) Dienstleister Soziales und Gesundheit; 6) Detailhandel, öffentliche Betriebe; 7) Öffentlicher Raum.

Demenzfreundliche Kirchgemeinde
Mit dem Teilmodul «Kirchen» sollen die Zuständigen auf allen kirchlichen Ebenen Impulse erhalten. Sie sollen einen sicheren Umgang mit an Demenz Erkrankten erfahren, damit diese möglichst lange am Kirchenleben teilnehmen können. Unter den Vorschlägen finden sich folgende Hinweise: «Bekannte Kirchenlieder, Rituale, in der Jugendzeit auswendig gelernte Bibelworte und vertraute Gebete wie das Vater Unser gewinnen unter dem Vorzeichen einer Demenzerkrankung häufig wieder an Bedeutung und tauchen oft auf wie Inseln aus dem Meer des Vergessens.» Zudem steht ein Werkzeugkasten des Bildungszentrums Tecum zur Verfügung mit einem Leitfaden zum Feiern mit Menschen mit Demenz, einer Gottesdienstgrundform sowie einem Liturgievorschlag für einen Erntedankgottesdienst. Menschen mit Demenz verlieren zwar scheinbar ihr Erinnerungsvermögen, sprechen aber umso stärker an auf Sinneserfahrungen. Beispiele aus der Praxis liefert ein informativer deutscher Podcast (s. Hinweis am Ende des Artikels). So sind kurze Gottesdienste mit kurzen, einfachen Sätzen wichtig und viel Musik – neben bekannten Kirchenliedern auch Volkslieder, beispielsweise mit einer Drehorgel begleitet. Alles, was Lebendigkeit ermöglicht, ist hilfreich, sei es ein Segensglöcklein oder die Möglichkeit, sich zu bewegen.

Äussere und innere Ausgrenzung
Gemäss Podcast findet auf Ebene der Kirche eine Wechselwirkung von Ausgrenzung und Rückzug statt: Ausgrenzung durch die Kirchgemeinde und die Seelsorgenden, Rückzug durch die Betroffenen und ihre Angehörigen. Letztere wollen nicht unangenehm auffallen und meiden kirchliche Veranstaltungen. Dabei werden die Betroffenen um etwas gebracht, das ihnen sehr guttut und Halt gibt. Die äussere Ausgrenzung findet beispielsweise aufgrund fehlender Barrierefreiheit und mangelnder Toiletten, schlechter Akustik oder zu langer Predigten statt. Betroffenen sind die Gottesdienste zu textlastig, sie können nicht folgen, werden unruhig. Dabei müssten sie nur mit den Sinnen einbezogen werden. Neben demenzfreundlichen Gottesdiensten gilt auch hier, die Ressourcen der erkrankten Menschen zu entdecken: So könnte eine demente Person helfen, die Tische zu decken für den Kirchenkaffee. Eine innere Ausgrenzung findet durch Seelsorgende oder andere kirchliche Akteure statt. Diese haben Angst vor unangenehmen Verhaltensweisen von Erkrankten. Dabei geht es darum, vertraut zu werden mit dem Unvertrauten und der Seele von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen in der Gemeinschaft Sorge zu tragen.

Drama herausnehmen
Ganz wichtig in einer solchen unangenehmen Situation ist es, das Drama herauszunehmen, damit die dementen Personen nicht aus dem Tritt kommen. Im Podcast wird dazu ein Beispiel erwähnt: Ein an Demenz erkrankter Mann sagte während einer Predigt laut: «Mir ist langweilig. Ich will nach Hause.» Alle Blicke waren auf den Pfarrer gerichtet. Dieser wandte sich dem Mann zu und sagte: «Gut, dass Sie Bescheid sagen. Ich bringe meinen angefangenen Gedanken noch zu Ende, dann singen wir ein Lied.» Im anschliessenden Kirchenkaffee entstand aufgrund des Vorfalls ein wertvoller Austausch darüber, wie die Besuchenden die Gottesdienste und Predigten erleben. Der Mann hatte einen Stein ins Rollen gebracht. 

Béatrice Eigenmann, forumKirche, 13.04.2023


Demenz-Podcast zu «Glauben und Spiritualität»


Alzheimer Thurgau
Tel. 052 721 32 54; info.tg@alz.ch; Mo bis Fr, 9–12 Uhr
«Demenzfreundliche Gemeinde Thurgau»

Fachstelle demenzSH
Information und Beratung: Mi und Do, 7–16 Uhr; Tel. 052 634 38 38; 
heike.gauss@spitaeler-sh.ch
 

Beim Betrachten des Fotoalbums mit der Demenzkameradin Erinnerungen hervorrufen
Quelle: Shutterstock
Beim Betrachten des Fotoalbums mit der Demenzkameradin werden Erinnerungen hervorgerufen.

 

 

 

An Demenz Erkrankte reagieren stark auf Sinneswahrnehmungen.
Quelle: Matthias Zomer/pexels.com
An Demenz Erkrankte reagieren stark auf Sinneswahrnehmungen.

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