Wie wir die Flut an Informationen bewältigen können

Informationen helfen normalerweise, sich im Leben zurechtzufinden. Doch wenn es zu viele werden, schaden sie uns. Im Buch «Wir informieren uns zu Tode» wird beschrieben, wie es zur Informationsflut in unserer digitalen Welt kommt. Der Neurobiologe Gerald Hüther, einer der beiden Autoren, schildert im Interview, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet und warum eine liebevolle Verbundenheit mit sich selbst und anderen vor Orientierungsverlust bewahrt. 

Wie ist dieses Buch im Zusammenspiel mit Robert Burdy entstanden?
Wir haben festgestellt, dass es uns beiden wichtig ist, etwas gegen die Informationsflut zu tun, die uns gerade überschwemmt. Dazu hat jeder seine eigene Kompetenz eingebracht. Robert Burdy stellt im Buch dar, wie in den Medien gearbeitet wird (Teil 1), und ich zeige aus neurobiologischer Sicht auf, was Informationen mit uns machen und warum wir so hinter ihnen herjagen (Teile 2 und 3). Das hat sich in bemerkenswerter Weise ergänzt. Das Buch ist auch ein Beispiel dafür, was heute mit Hilfe digitaler Medien alles möglich ist. Wir konnten es miteinander fertigstellen, ohne uns dabei zu physisch zu treffen.

Warum kann der Titel «Wir informieren uns zu Tode» durchaus wörtlich verstanden werden?
Als Biologe weiss ich, dass kein Lebewesen leben könnte, wenn es nicht in der Lage wäre, Signale zu produzieren und sie aus der Umwelt zu empfangen. Das heisst die Nutzung und Weiterverarbeitung von Informationen ist ein Grundmerkmal und eine Grundbedingung alles Lebendigen. Es ist extrem wichtig für das Überleben einer jeden Art, dass die spezifischen Möglichkeiten der Informationsweitergabe auch erhalten bleiben und weiter ausgebaut werden können. In dem Moment, in dem so viele unterschiedliche Botschaften verbreitet werden, dass sie von den anderen Mitgliedern nicht mehr wahrgenommen werden können, verlieren die Informationen ihren Wert und sind nicht mehr brauchbar als wichtige Hinweise für die eigene Lebensgestaltung. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man gar nicht mehr weiss, worauf es im Leben wirklich ankommt. So werden Menschen immer manipulierbarer.

Was führt zu dieser Flut an Informationen?
Ein wichtiger Punkt ist die Kommerzialisierung der modernen Medien. Diese sind darauf ausgerichtet, umsatzorientiert zu arbeiten. Ihr Umsatz ist daran gekoppelt, dass möglichst viele Menschen ihre Informationen erhalten. Dabei ist es den Medien egal, ob die Empfänger viel mit den Informationen anfangen können oder nicht. 
Um möglichst viele Empfänger zu erreichen, werden die Informationen emotional aufgeladen. Je aufregender sie verpackt werden, desto mehr schauen oder hören hin und kaufen dann auch das damit verbundene Produkt. Die perfideste Form dieser Manipulation ist das Schüren von Angst. Diese emotionale Aufladung verschärft die Problematik noch. Aus der Flut von scheinbedeutsamen Informationen ist es dann noch schwieriger herauszufiltern, was wirklich wichtig ist. 

Es ist also nicht nur die Menge an Informationen, die uns zu schaffen macht …
Mit dem Aufkommen der digitalen Medien wurde es möglich, unterschiedliche Meinungen als Informationen zu verbreiten, auch über ein und denselben Sachverhalt. Das führte dazu, dass viele nicht mehr wissen, wem sie glauben sollen. Es ist nicht leicht herauszufinden, welche Darstellung zutreffend ist und welche nur dazu dient, die Nutzer dazu zu bewegen, eine bestimmte Information weiterzuverbreiten. Dadurch wird eine zunehmende Verwirrung gestiftet. Manche Nutzer wissen sich nicht anders zu helfen, als sich auf eine Seite zu schlagen. So verlieren Menschen ihre Differenzierungsfähigkeit.
Gesellschaftlich wirkt sich dies so aus, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Meinungen konträr gegenüberstehen. In unserer Gesellschaft ist derzeit eine massive Polarisierung festzustellen, die sich im Umgang mit der Corona-Pandemie, aber auch in der Bewertung des Klimawandels oder der Waffenlieferungen an die Ukraine zeigt. 

Inwiefern sind wir als Empfänger*innen von Informationen mitverantwortlich für «unsere» Informationen?
Eine Botschaft wird nicht zur Information, indem sie herumgeschickt wird, sondern erst dadurch, dass sie etwas im Empfänger bewirkt. Es gibt viele Möglichkeiten, wie ein Empfänger auf eine Botschaft reagiert. Er kann sie aufbauschen, abschwächen oder auch nicht ernst nehmen. Wenn er emotional reagiert, übernimmt das ausgelöste Gefühl die Handlungskontrolle über ihn. Deshalb sollte man sich fragen, ob die Botschaft wirklich etwas mit einem zu tun hat und ob sie überhaupt ernst zu nehmen ist. Dazu braucht man eine gewisse Vorstellung davon, was im Leben wirklich wichtig ist und was getrost übersehen werden darf. Es scheint vielen Menschen schwerzufallen, mit Gelassenheit auf Botschaften in sozialen Netzwerken zu reagieren. Wir könnten uns gegenseitig helfen, diese Gelassenheit und auch unser Urteilsvermögen zu stärken. 

Die Weitergabe von Informationen war für die Evolution und für die Entwicklung der Menschheit sehr wichtig …
Lebenswichtig. Unser Organismus mit den vielen Zellen und Organen würde keine Sekunde überleben können, wenn diese Zellen und Organe nicht ständig die Informationen, die sie haben, in Form von Signalen austauschen würden. Es geht über Transmitter, Hormone und andere Signalstoffe, die über das Nervensystem und auch über den Blutkreislauf weitergeleitet werden. Ohne Informationen und Signalverarbeitung ist Leben gar nicht denkbar. 

Wie funktioniert die Verarbeitung von Informationen in unserem Gehirn?
Das Gehirn folgt einem interessanten Prinzip, das auch seine Arbeitsweise bestimmt. Nervenzellen versuchen sich miteinander so zu verknüpfen, dass das Gehirn als Ganzes oder als Nervenzellenverband möglichst wenig Energie verbraucht, um seine Struktur und Funktion aufrechtzuerhalten. Am wenigsten Energie wird dann gebraucht, wenn alles gut zusammenpasst, wenn die verschiedenen Netzwerke gut miteinander synchronisiert sind, wenn also beispielsweise die eigenen Erwartungen mit dem übereinstimmen, was draussen passiert, oder wenn das Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit bilden. Das Problem ist, dass man diesen kohärenten Zustand, solange man lebendig ist, nie ganz erreichen kann. Das Kennzeichen alles Lebendigen ist eben, dass es immer wieder störbar ist.
Durch diese Erschütterbarkeit sind Lebewesen ja erst in der Lage zu lernen, mit auftretenden Störungen umzugehen. Das gilt auch für Informationen, die so stark und so bedeutungsvoll sind, dass ich sie wahrnehme. Nervenzellen fangen an durcheinander zu feuern, die vorhandene Ordnung geht verloren. Es entsteht eine sich ausbreitende Unruhe, die man dann auch körperlich spürt.

Wie reagieren wir auf diese Störung?
Wir beginnen dann, mit Hilfe des Gehirns nach einer Lösung zu suchen, damit das Durcheinander aufhört und alles wieder besser zusammenpasst. Oft wird diese Lösung gleich zusammen mit der aufrüttelnden Information angeboten. Bei Virus-Gefahr Masken aufsetzen und sich isolieren, bei Klimaerwärmung CO2-Ausstoss vermindern! Die selbst gefundene oder von anderen übernommene Lösung hilft, die Prozesse im Gehirn wieder in den Zustand der Kohärenz zu bringen. All jene Nervenzellverknüpfungen, die an dieser Lösung beteiligt waren, werden gestärkt und gefestigt. Das ist die Erklärung dafür, dass im Gehirn nicht die Probleme, sondern die Lösungen verankert werden. Wir suchen also ständig nach Lösungen. Deshalb schauen wir hin, wenn sich etwas Gefährliches, z. B. ein Unfall, ereignet. Wir tun dies nicht aus Sensationslust, sondern weil wir nach einer Lösung suchen, falls wir selbst einmal in eine ähnliche Situation kämen. 

Der erste Schritt aus der belastenden Informationsflut ist für Sie die Erkenntnis, dass wir durch noch mehr Informationen nicht unbedingt glücklicher oder gar freier werden …
Immanuel Kant spricht von einer «selbstverschuldeten Unmündigkeit». Sie besteht nicht darin, dass man nicht genug weiss, sondern dass man nicht genug Mut hat, sich seines Verstandes zu bedienen. Es geht also nicht darum, sich möglichst viele Informationen zu beschaffen, sondern im Laufe seines Lebens zu lernen, was wirklich wichtig ist, und das Wichtige zu tun, anstatt sich dauernd ablenken zu lassen.

Was bedeutet dies hinsichtlich unseres Medienverhaltens?
Es gibt zwei Grundbedürfnisse, die wir mit auf die Welt bringen: das nach Nähe bzw. Zugehörigkeit und das nach Autonomie bzw. Selbstbestimmung. Es ist nicht einfach, beide Grundbedürfnisse gleichzeitig zu stillen.
Viele machen die schmerzhafte Erfahrung, dass sie durch eigenständiges Handeln und das Bekenntnis zu einer eigenen Meinung die Zuneigung anderer verlieren. Sie werden abgelehnt, ausgegrenzt und ihr Grundbedürfnis nach Nähe ist nicht mehr gestillt. Sie werden nicht so gemocht, wie sie sind. Um die Anerkennung anderer zu finden und zumindest irgendwie dazuzugehören, versuchen sich solche Menschen an die Erwartungen der anderen anzupassen, deren Aufmerksamkeit auf sich zu richten, Einfluss und Bedeutung zu erlangen. Das geschieht heute auch in den sozialen Medien. Man möchte dazugehören, man möchte als jemand wahrgenommen werden, der sich auskennt. So entsteht ein innerer Drang, sich immer wieder neu Informationen zu besorgen. Auch die Verbreitung von Informationen geschieht oft aus dem Bedürfnis heraus, Anerkennung von anderen zu erhalten. 

Wie kann man diesem Bedürfnis nach Verbundenheit adäquat begegnen?
Diese Angst vor dem Verlust der Verbundenheit ist ja völlig in Ordnung. Wir sind soziale Wesen und brauchen die Gemeinschaft mit anderen. Die Frage ist nur, ob sich diese Verbundenheit überhaupt auf diesen virtuellen medialen Ebenen finden lässt. Wenn einem klar wird, dass eine Person, mit der man wirklich verbunden ist, wichtiger ist als hundert andere, mit denen man sich nur austauscht, gelangt man schnell man an die Grundfragen des Lebens. 
So können Menschen auch gewahr werden, dass sie sich selbst vernachlässigt haben, nicht sehr liebevoll mit sich selbst umgegangen sind, und wieder versuchen, sich mit sich selbst zu verbinden. Jemand, der mit sich selbst und aus sich selbst heraus glücklich ist, ist kein Bedürftiger mehr und braucht damit auch die anderen nicht mehr, um seine Bedürftigkeit zu stillen. Ein solcher Mensch kann etwas verschenken, aber er muss nicht mehr zwanghaft nach Informationen Ausschau halten oder ständig welche verbreiten. 

Welchen Weg schlagen Sie vor, wie wir «unsere selbstverschuldete Unmündigkeit» hinter uns lassen können?
Die einschlägigen Experten empfehlen, die Medienkompetenz der Nutzer zu stärken. Das wird dann mit viel Aufklärung, Belehrung und auch mit Belohnungen oder Sanktionen versucht. Aber dieses Abrichtungs- und Dressurlernen funktioniert nicht. Wenn es überhaupt etwas verändert, dann das konkrete Verhalten von Menschen, nicht aber deren innere Einstellung. Das ist das Problem. Denn unser Verhalten wird von unseren inneren Einstellungen, unseren jeweiligen Haltungen gelenkt. Wir müssen uns also gegenseitig helfen, diese innere Einstellung zu verändern. Das geht nicht durch Belehrungen, sondern nur, indem wir einander einladen, ermutigen und inspirieren, unser Informationsbedürfnis auf eine günstigere Weise zu stillen als bisher. Aber einladen kann man nur jemanden, den man irgendwie auch mag. Wir müssten also künftig ein wirkliches Interesse an der Entfaltung des anderen in uns spüren, anstatt uns an unseren eigenen Vorteilen zu orientieren. Wir müssten von einer Gesellschaft, in der die Menschen ständig etwas haben wollen, zu einer Gemeinschaft werden, deren Mitglieder etwas zu verschenken haben. Das ist die grosse Aufgabe, die vor uns steht.

Das verwundert, so etwas von einem Naturwissenschaftler zuhören. Das klingt eher nach einem soziologischen bzw. theologischen Ansatz.
Es ist ein gutes Zeichen, dass eine moderne Naturwissenschaft wie die Hirnforschung Erkenntnisse zutage fördert, die das unterstreichen, was Erfahrungs- und Geisteswissenschaften ebenfalls nachweisen können. Und ich finde es sehr bemerkenswert, dass unsere Vorfahren genau das mit ihrem Verstand und ihrer Beobachtungsgabe bereits erkannt hatten, als es diese heutigen Wissenschaften noch gar nicht gab. Es ist doch eine sehr interessante Erkenntnis, dass dieser Zustand von Kohärenz, der in unserem Gehirn angestrebt wird, am ehesten zu erreichen ist, wenn wir uns auf eine liebevolle Weise mit dem Leben verbinden.
Das ist ja auch der Kern der spirituellen Erkenntnisse, die in allen Weltreligionen zumindest ursprünglich einmal verbreitet worden sind. Das Problem ist nur, dass die Vertreter*innen der religiösen Einrichtungen, die mit der Verbreitung und Verwaltung dieser Erfahrungen bis heute befasst sind, diesen spirituellen Kern offenbar zunehmend aus den Augen verloren haben. Bei allen, die sich noch immer gegenseitig bekämpfen oder gar bekriegen, ist das, was ihre jeweilige Religion lehrt, leider nicht im Herzen angekommen.

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 11.05.2023
 

Gerald Hüther
Quelle: www.gerald-huether.de
Gerald Hüther habilitierte sich 1988 im Fachbereich Medizin an der Universität Göttingen und forschte auf dem Gebiet der experimentellen Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universitätsmedizin Göttingen.

 

 

 

Social Media
Quelle: MrJayW/Pixabay.com
Über ganz unterschiedliche Kanäle erreichen uns täglich viele Informationen. Dazu gehören auch die sozialen Medien.

 

 

 

Frau am Mobiltelefon
Quelle: andrea-piacquadio/pexels
Emotional aufgeladene Meldungen machen es uns schwer herauszufinden, was wirklich wichtig ist.

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