Menschenrechte und die katholische Kirche

Adrian Loretan, Professor für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern, nimmt im schriftlich geführten Interview Stellung zu den Menschenrechten als Instrument gegen Machtmissbrauch – auch in der Kirche.

Menschenwürde und Menschenrechte fanden auch Einzug in Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Welche waren neu für die katholische Kirche?
Papst Johannes XXIII. beginnt 1963 mitten im Konzil, in der Enzyklika Pacem in terris menschenrechtlich zu argumentieren. Dieser Wende schliesst sich das Konzil an. Es gibt «in der Kirche keine Ungleichheit aufgrund von […], sozialer Stellung oder Geschlecht» (LG 32). Das Konzil verneint so ausdrücklich jede Theorie oder Praxis, «die zwischen Mensch und Mensch […] bezüglich der Menschenwürde und der daraus fliessenden Rechte einen Unterschied macht […], weil dies dem Geist Christi widerspricht» (NA 5). Daher muss «jede Form einer Diskriminierung […] beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht» (GS 29). Dies ist keine soziologische Beschreibung der Wirklichkeit, sondern eine normative Sicht, wie es sein müsste, aber nicht ist.

Hat die katholische Kirche Schritte unternommen, damit die Rechte, die sie während des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert hat, auch eingefordert werden können? 
Der Theologe Karl Rahner hat mich motiviert, Kirchenrechtswissenschaft zu studieren. Er vertritt die Auffassung, dass das Konzil zur Makulatur verkommt, wenn diese Konzilstexte nicht in verbindliches Verfassungsrecht der Kirche übersetzt werden. Papst Paul VI. hatte dieses Anliegen aufgenommen in einem Grundrechtskatalog der kirchlichen Verfassung (Lex Ecclesiae Fundamentalis), die aber von Johannes Paul II. nicht in Kraft gesetzt wurde. Die vom Konzil beschriebene Würde der Person (DH 1), die Gleichstellung der Gläubigen (LG 32), das Diskriminierungsverbot (GS 29), die Religionsfreiheit (DH) und die menschenrechtliche Argumentation des obersten Lehramtes bekommen erst als rechtliche Grössen ihre Verbindlichkeit. Menschenrechte sind ein Instrument gegen den Machtmissbrauch in der Kirche, wie es die erste Bischofssynode 1967 sehr klar formuliert hat.

Während die katholische Kirche nach aussen eine Verfechterin der Menschenwürde ist, scheint sie kirchenintern einen anderen Massstab zu haben. Wie begründet sie diesen ungleichen Umgang mit den Grundrechten?
Die Kirche will die Grundsätze der sozialen Ordnung verkündigen, «insoweit die Grundrechte der menschlichen Person […] dies erfordern» (c. 747 § 2). Genau an diesen Grundrechten, die die Kirche nach aussen verkündet in ihrer Soziallehre, wird sie nun nach innen gemessen. Denn man kann nicht Wasser predigen und Wein trinken. Solange das geltende Recht der Kirche von einem schrankenlosen Vorbehalt zugunsten der kirchlichen Autorität ausgeht, kann von Grundrechten in einem strikten Sinn in der Kirche nicht die Rede sein. Deren Wesen besteht darin, dass sie der Ausübung des Amtes Schranken setzt. Genau diese schrankenlose Autorität führt zum Machtmissbrauch. Ohne garantierte Menschenrechte können sich die Opfer sexueller Gewalt nicht gegen die Amtspersonen wehren.

Auch andernorts werden die Grundrechte nicht umgesetzt. So gibt es Staaten, welche die Menschenrechte als Produkt aus dem Westen ablehnen. Ist dieser Einwand berechtigt?
Der moderne Rechtsstaat ist im christlichen Europa herangereift, das institutionell von der römisch-katholischen Kirche geprägt war. Wer also den modernen Rechtsstaat verstehen will, kommt an der Kirche institutionell und rechtsphilosophisch nicht vorbei, wie Jürgen Habermas in seiner Philosophiegeschichte (Bd. 1, 2019) zeigt. Dieser erste vorbildliche Rechtsstaat Europas, die Kirche, hat sich nach der Französischen Revolution von allen Verfassungsstaaten verabschiedet und durch das Aufgeben des bisher gemeinsamen Naturrechts von Kirche und Staat isoliert. Damit hat die Kirche die rechtswissenschaftliche Weiterentwicklung wie so viele andere Kritiker der Menschenrechte verpasst, sodass zwischen Kirche und Gesellschaft in Westeuropa ein Graben entstanden ist, der eine Vermittlung des Evangeliums an die nächste Generation fast verunmöglicht. Man kann natürlich auch zu Recht von anderen Weltanschauungen und Religionen die Menschenrechte begründen und sollte dies auch tun, wie z. B. im Cambridge Handbook of Human Dignity. Hier werden buddhistische, hinduistische, islamische etc. Begründungen der Menschenrechte entwickelt.

Marianne Bolt/Red., 29.11.2023
(Erste Veröffentlichung im Pfarreiblatt des Kantons Zug 50/51
 

Adrian Loretan, Professor für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern
Quelle: zVg
Adrian Loretan, Professor für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern

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