Der Beitrag des islamischen Religionsunterrichts im Thurgau

Muslimische Kinder sollen ihren islamischen Glauben als spirituelle Ressource für ihr Leben kennenlernen und vertiefen. Ein Blick zurück auf die Anfänge des Islamunterrichts in Kreuzlingen, der heute als Modell dient.

«Wie viel Religion verträgt die Schule?» lautete der Titel einer Tagung, welche die Pädagogische Hochschule Thurgau (PHTG) gemeinsam mit dem Amt für Volksschule 2007 in Kreuzlingen durchführte. Bei der Nachbereitung dieser Tagung wurde die Frage konkretisiert: Welche Religionen dürfen warum in der öffentlichen Schule Religionsunterricht erteilen? Sie hatte eine bestimmte Brisanz gerade für Kreuzlingen, wo der Anteil muslimischer Schüler*innen schon damals gut 20 % ausmachte. Der Runde Tisch der Religionen, der bis heute vor Ort den interreligiösen Dialog pflegt, nahm die Herausforderung an und entwickelte ein Projekt mit islamischem Religionsunterricht (IRU). Auf kantonaler Ebene koordiniert heute der Vorstand des Interreligiösen Arbeitskreises im Kanton Thurgau die IRU-Projekte.

Breit abgestützt und selbst organisiert
In Kreuzlingen bildete sich eine breit abgestützte Projektgruppe aus Vertreter*innen der christlichen Kirchen, der PHTG, der muslimischen Verbände und aus Schulleiter*innen. Zu Beginn nahmen auch Vertreter des Erziehungsdepartements daran teil. Die Projektgruppe leistete Hebammendienste, indem sie das Projekt konzeptionell und organisatorisch entwarf und mit der zuständigen Schulbehörde über dessen Einführung verhandelte. Dabei schlug sie eine Lösung vor, die sich am Modell des konfessionellen christlichen Religionsunterrichtes orientiert. 
Analog zur Zuständigkeit der Landeskirchen gründeten die beiden Moscheegemeinden 2010 einen Trägerverein, der für die Organisation und Finanzierung des Projektes zuständig ist. Mit der Vereinsgründung wählten sie eine typisch helvetische Form flexibler Selbstorganisation und Problemlösung. Diese trug wesentlich auch zur innerislamischen Ökumene bei. Gemeinsam tragen heute die albanische, die türkische sowie die bosnische Moscheegemeinde das Projekt in Kreuzlingen. Sie achten darauf, dass die Eltern der Kinder, die den Religionsunterricht besuchen, im Trägerverein angemessen vertreten sind. Diese bezahlen pro Jahr und Kind 135 Franken.

Religiöse Toleranz
Nachdem die Schulbehörde beschlossen hatte, dass der IRU in Kreuzlingen stattfinden konnte, startete das Projekt im Schuljahr 2010/2011. Wie beim christlichen Religionsunterricht stellen die Schulgemeinden bis heute lediglich den Raum für den IRU zur Verfügung. Zudem koordinieren sie die Plätze im Stundenplan. Für die Finanzierung der Lehrpersonen kommen die Moscheegemeinden selbst auf – analog zu den Kirchgemeinden. 
Während dreier Jahre wird seither Kindern muslimischen Glaubens in der 4., 5. und 6. Klasse eine Wochenlektion Religionsunterricht erteilt. Die Kinder lernen ihren Glauben aus einer Binnenperspektive kennen. Dabei werden zentrale Inhalte islamischen Glaubens vermittelt. Die Schüler*innen reflektieren diese im Kontext ihrer aktuellen Lebenswelt hier in der Schweiz. Sie vertiefen sich allerdings nicht nur in ihre eigene Religion, sondern lernen auch andere religiöse Traditionen kennen. Sie begreifen, wie sie mit Menschen anderen Glaubens in Frieden zusammenleben können. Diese Haltung religiöser Toleranz lernen sie aus Quellen ihrer eigenen Tradition zu begründen. Sie lernen einen Islam kennen, bei dem die Ansprüche des Korans und jene der Schweizer Verfassung einander nicht widersprechen. Zudem erfahren sie, dass der Glaube an die Schöpfung wichtige Impulse zur Lösung der aktuellen ökologischen Probleme bieten kann. 

Kreuzlingen als Modell 
Der IRU entspricht dem vertrauten christlichen Religionsunterricht, wie er im Thurgau von den Landeskirchen erteilt wird. Der IRU ist konfessionell und deshalb freiwillig. Jeweils im Mai werden muslimische Eltern eingeladen, ihre Kinder für den IRU anzumelden. Im aktuellen Schuljahr besuchen 95 Schüler*innen den IRU in Kreuzlingen. Imam Rehan Neziri unterrichtet seit Beginn die Viert-, Fünft- und Sechstklässler. Die Unterrichtssprache ist Deutsch. Somit können Kinder aus unterschiedlichen muslimischen Traditionen gemeinsam unterrichtet werden. Der Lehrplan orientierte sich bisher am Lehrplan für IRU in Bayern. Während der letzten 13 Jahre evaluierte Judith Borer, Leiterin der Fachstelle Religion und Schule der PHTG, den Unterricht und verfasste einen kurzen Bericht zuhanden der Schulbehörde sowie der Trägerorganisation.

Integrative Wirkung
Die Schulgemeinde in Kreuzlingen bekam mit Imam Rehan Neziri als Lehrperson eine Ansprechperson. Sie kann vermitteln zwischen Schule und Eltern resp. Moscheegemeinden. Heute können Probleme zum Beispiel mit Dispensen vom Schwimmunterricht einvernehmlich gelöst werden. Der Imam hat als Religionslehrer eine integrative Wirkung. Auch die Schüler*innen und Eltern sind stolz, dass ihre Religion am Lernort Schule vorkommt. Sie schätzen den Unterricht, durch den Vorurteile abgebaut werden können. Nach Kreuzlingen entstanden IRU-Projekte in Sulgen (seit 2019) und Romanshorn (seit 2022). Weitere Projekte planen die Initiant*innen in Bürglen, Weinfelden, Frauenfeld, Amriswil und Arbon. All diese Projekte finden in Schulgemeinden mit einem ansehnlichen Anteil muslimischer Kinder (10–30 %) statt. Auch das IRU-Projekt in Neuhausen (siehe forumKirche 16/2023, S. 10f.) orientiert sich am IRU-Modell von Kreuzlingen.

Matthias Loretan/Red., 11.04.2024
 

Imam Rehan Naziri mit einer 5. Klasse im Schulhaus Wehrli in Kreuzlingen
Quelle: zVg
Imam Rehan Naziri mit einer 5. Klasse im Schulhaus Wehrli in Kreuzlingen

 

 

Matthias Loretan, Präsident des Interreligiösen Arbeitskreises im Kanton Thurgau
Quelle: Béatrice Eigenmann
Matthias Loretan, Präsident des Interreligiösen Arbeitskreises im Kanton Thurgau

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