Zwinglis Vorstellung von Gerechtigkeit

Mit der Schrift «Göttliche und menschliche Gerechtigkeit» lieferte Zwingli ein grundlegendes Dokument reformierter Sozialethik: Wie verhalten sich göttliche und menschliche Gerechtigkeit zueinander und wie begründen sie christlich-ethisches Handeln? Die Schrift ist ein Beispiel des reformatorischen Wandels des 16. Jahrhunderts.

HISTORIE

Aufgebrachte Bauern galt es zu beruhigen und den Gönner der Reformation, Niklaus von Wattenwyl, zu gewinnen.

Nach der Zürcher Disputation im Januar 1523 stand an der Tagesordnung, das geistliche und soziale Leben neu zu regeln. Anlass waren die laut werdenden Forderungen der Bauernbewegung nach radikalem Umsturz der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Diese sollten später in manchen Gemeinden zur Zerstörung von Kirchen und Klöstern führen. Im Rahmen des sogenannten Ittinger Sturms wurde auch ein Grossteil der Kartause Ittingen in Brand gesetzt und zerstört. Begründet waren die Forderungen der Bauern mit biblischen Sätzen, aber auch mit Argumenten zur Praxis des Zins- und Zehnten-Wesens, die Zwingli selbst geäussert hatte. Um einem Aufruhr entgegenzuwirken, sah sich Zwingli genötigt, an verschiedenen Fronten zu kämpfen: Erstens gegen die katholischen Traditionalisten, die an der päpstlichen Autorität festhalten wollten. Zweitens gegen die Radikalen, die die Abschaffung aller menschlichen Ordnungen forderten. Drittens gegen die Wankelmütigen, die dem Wort Gottes keine Kritik an wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen zutrauten. Daraufhin verfasste er im Juli 1523 eine Schrift basierend auf einer Predigt, in der er den Begriff «Gerechtigkeit» aus göttlicher und menschlicher Perspektive beleuchtet. Gerichtet ist die Schrift an Niklaus von Wattenwyl, Probst in Bern, der der reformatorischen Bewegung wohlwollend gegenüberstand.

THEOLOGIE

Zwingli unterscheidet zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit; beide sind von Gott.

Göttliche Gerechtigkeit richtet sich auf den inneren Menschen, wie man Gott und den Nächsten lieben soll. Der Mensch vermag sie nicht zu erfüllen, denn die Gerechtigkeit, die Gott uns vorschreibt, ist er selbst. Durch Gottes Gnade werde sie dem Menschen lieb gemacht: «Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.» (Mt 5,48) Im Blick auf die zerbrochene Natur des Menschen steht demgegenüber die armselige und unvollkommene menschliche Gerechtigkeit. Sie urteilt nach der äusseren Tat und dem Anschein und straft, was die Seele schon vollbracht hat. So kann es sein, dass wir nach der menschlichen Gerechtigkeit für rechtschaffen gehalten werden. Vor Gott aber, der allein ins Herz schaut und die wahre Absicht des Handelns erkennt, sind wir Schurken. Die Menschen sollen nach der göttlichen Gerechtigkeit unentwegt suchen. Sie soll verkündet werden, wie es Christus getan hat. Der menschlichen Gerechtigkeit in Form der Schuld des Zehnten und der Zinsen ist der Mensch vor Gott und den Menschen genauso verpflichtet. Den Menschen ist zu geben, was man ihnen schuldig ist: «Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist.» (Mt 22,21) Die Pflicht der Obrigkeit besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Zehnten nicht missbraucht werden.

WIRKUNGSGESCHICHTE

Göttliche und menschliche Gerechtigkeit sind Regelwerke des menschlichen Zusammenlebens.

Das göttliche Wort soll den Menschen verkündet und ausgelegt werden. Durch Gnade wird sich der Mensch dieser Allmacht bewusst. Der Mensch soll das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suchen und dadurch gerecht werden. Dafür hat Gott dem Menschen das Evangelium gegeben. Weil das von Gott geforderte Mass nicht erreicht werden kann, hat Gott dem Menschen elementare Gesetze gegeben, die durch die Obrigkeit für öffentliche und staatliche Ordnung eingefordert werden. Die Obrigkeit ist an das göttliche Wort gebunden; sie soll alles, was ihm widerspricht, abschaffen. Zwingli festigt damit die anvertraute Gewalt der Obrigkeit mit dem Ziel, das Leben zu ordnen. «Dann lasst nur Gott walten. Er wird alle Dinge ins rechte Gleis bringen», so der Originaltext, übersetzt von Ernst Saxer, ehemaliger Honorarprofessor der Universität Bern.

Rosemarie Hoffmann/Red. (11.6.19)


HIER UND HEUTE: Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender der evangelischen Kirchen in Deutschland, bringt die Hoffnung auf Gerechtigkeit in den Diskurs.

Huber plädiert dafür, das Thema Gerechtigkeit nicht nur den Juristen, Philosophen und Gesellschaftstheoretikern zu überlassen. Die Deutung des Lebens im Horizont der Wirklichkeit Gottes hat die Theologie einzubringen. In diesem Horizont erscheinen Relativität und Vorläufigkeit als Kennzeichen der Weltwirklichkeit; diese ist immer auch eine Geschichte des Wandels. Jede Generation hat die Aufgabe, wie Jesus von Nazareth, das Recht aus der Perspektive der Entrechteten, denen zum Leben das Notwendigste fehlt, zu verteidigen. Recht und Gerechtigkeit zielen darauf ab, dass Menschen in Freiheit leben und sich wechselseitig als Gleiche anerkennen können. Christliche Rechtsethik war zugleich immer auch ein Auflehnen gegen bestehende Verhältnisse, die Pflicht zum Widerstand, eine Ethik des zivilen Ungehorsams: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.» (Apg 5,29) Die lateinamerikanische Befreiungsbewegung, die afrikanische Bürgerrechtsbewegung, die weltweiten Frauen- und Geschlechterbewegungen sind Beispiele dafür. Jede Generation muss sich der Aufgabe neu stellen, sich um das ihr mögliche Mass an Gerechtigkeit zu bemühen.



 

 

 

 

 

 

 

 

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Illustrationen: Vida Sprenger

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