ACP und die Patientenverfügung «plus»

Die moderne Medizin eröffnet vielfältige Behandlungsmethoden. Aber ist auch alles gewünscht, was möglich ist? Wenn man selbst nicht mehr entscheidungsfähig ist, kann eine Patientenverfügung Auskunft über die eigenen Behandlungswünsche geben. Diese sollte allerdings konkret und aussagekräftig sein. Genau das versucht das Konzept Advance Care Planning (vorausschauende Behandlungsplanung ACP) sicherzustellen. Monika Obrist, Co-Geschäftsleitung ACP Swiss, erklärt, auf was ACP Wert legt und welche Situationen bei der Patientenverfügung «plus» berücksichtigt werden.

Was versteht man unter ACP?

Es ist ein international verwendetes Konzept, das zum Ziel hat sicherzustellen, dass Menschen im Falle einer Urteilsunfähigkeit so behandelt werden, wie sie sich das wünschen, dass die Behandlung an den Wertvorstellungen und Wünschen der Patient*innen ausgerichtet ist und nicht an den Vorstellungen von Fachleuten zum Beispiel.

Was unterscheidet ACP von einer normalen Patientenverfügung?

Es gibt viele gute Formulare für eine Patientenverfügung. Im Prinzip kann man auch ein Blatt Papier nehmen und selber seine Vorstellungen und Wünsche aufschreiben. Von daher kann man nicht von einer «normalen » Patientenverfügung reden. Mit Datum und Unterschrift versehen sind dies verbindliche Willensäusserungen. Zu den wesentlichen Merkmalen einer ACPVerfügung zählt, dass sie im Rahmen einer Beratung erstellt wird, dass ein Gespräch mit einem*einer Berater*in erfolgt, durch das die Anliegen des Verfassers gespiegelt und gemeinsam reflektiert werden und ebenso sichergestellt wird, dass die Verfügung keine Widersprüche enthält. Der*die Berater*in ist also eine Art Coach. Dabei kommen verschiedene Situationen von Urteilsunfähigkeit in den Blick, die man bespricht. Die Erstellung der Verfügung versteht sich ausserdem als fortlaufender Prozess. Man legt sich nicht ein für alle Mal fest, sondern prüft das Festgehaltene von Zeit zu Zeit. Denn Lebensumstände können sich verändern, und damit verändern sich oft die Behandlungsziele. Ebenso wichtig ist das Gespräch mit nahestehenden Menschen, die im Falle einer Urteilsfähigkeit vertretungsberechtigt sind. Sie sollen verstehen können, was jemand sich wünscht, welche Behandlungsziele jemand hat, wenn sie/er dies nicht mehr selber ausdrücken kann.

Warum sind die bisherigen Patientenverfügungen unter Umständen unzureichend?

Es ist nicht so, dass alle bisherigen Verfügungen unzureichend sind. Es kommt wirklich darauf an, was man festhält. In Gesprächen mit Behandlungsteams von Intensivstationen hören wir, dass ihnen Entscheidungen schwerfallen, wenn sie einen bewusstlosen Patienten vor sich haben und eine Verfügung, bei der nur vorgedruckte Aussagen angekreuzt sind ohne irgendwelche persönliche Erklärungen. Können die Behandlungsteams wirklich sicher sein, dass der Patient verstanden hat, was er angekreuzt hat, und er sich der Konsequenzen bewusst ist? Die Behandlungsteams sind darauf angewiesen, die persönlichen Werte, Ziele und Überlegungen des Patienten zu kennen, um auch verifizieren zu können, ob er seine Entscheidung gut durchdacht hat und ob diese auch für die aktuelle Situation gültig ist. 

Es gibt also in der Praxis Verfügungen, die unklar und damit wenig hilfreich sind?

Oder Widersprüche enthalten. Wenn jemand zum Beispiel ankreuzt: «Ich möchte keine lebensverlängernden Massnahmen», und gleichzeitig «Ich möchte reanimiert werden». Oder wenn jemand in seiner Verfügung schreibt «in einer hoffnungslosen Situation ». Wann ist eine Situation für diese Person «hoffnungslos»? Wenn jemand auf der Intensivstation behandelt wird, kann immer noch eine kleine Hoffnung auf Heilung oder Besserung bestehen. Man muss genau formulieren, was man meint, damit ein Behandlungsteam sicher sein kann, was man in der betreffenden Situation wünscht, dass die Aussagen auch handlungsleitend sind.

Was soll mit einer Patientenverfügung «plus» erreicht werden?

Es soll erreicht werden, dass Menschen nach Möglichkeit so behandelt werden, wie sie sich dies wünschen. Es gibt natürlich auch Wünsche, die nicht umsetzbar sind. Zudem sollen die Angehörigen entlastet werden. Für sie ist es sehr belastend, sich zum Beispiel für den Abbruch einer Behandlung zu entscheiden, wenn sie nie darüber gesprochen haben und keine entsprechende Patientenverfügung vorliegt. Selbst wenn sie überzeugt sind, dass der Patient es sich so gewünscht hätte. In diesem Fall kann eine formulierte Erklärung sehr hilfreich sein. In ihr könnte jemand z. B. vermerken, dass er das Risiko vermeiden möchte, mit einer schweren geistigen Beeinträchtigung weiterleben zu müssen. In Australien wurde untersucht, wie es Menschen nach dem Tod ihrer Angehörigen geht. Man stellte fest, dass es viel weniger posttraumatische Belastungsstörungen oder Schuldgefühle gab, wenn der Patientenwille vorher klar formuliert war. Durch eine Patientenverfügung vermeidet man ungewollte Behandlungen, aber man kann darin ebenso gewollte Behandlungsziele festhalten.

Welche Situationen werden in einer Patientenverfügung «plus» berücksichtigt?

Es gibt drei Situationen, für die man etwas festlegen kann. Zum einen im Notfall: Was wünsche ich mir bei einem Notfall, wenn noch keine Diagnose vorliegt, z. B. wenn ich plötzlich bewusstlos auf der Strasse liege? Dann gibt es die Situation «Urteilsunfähigkeit unklarer Dauer». Zum Beispiel: Ich liege auf der Intensivstation nach einem Unfall, es ist soweit alles stabil. Es gibt eine erste Diagnose und eine vorsichtige Prognose. Wenn ich urteilsfähig wäre, würde ich fragen, welche Chancen und Risiken bestehen. Wenn ich dazu nicht mehr in der Lage bin, kann ich für diesen Fall Behandlungsziele festlegen. Ich kann ebenso eine Risikoabwägung vornehmen: Wie viel Risiko, wie viel Belastung nehme ich in Kauf und ab wann sage ich «nein», hier möchte ich die Behandlung nicht mehr fortführen? Eine dritte Situation tritt ein, wenn jemand definitiv urteilsunfähig ist, z. B. nach einem schweren Schlaganfall oder bei fortgeschrittener Demenz, und dann noch eine Lungenentzündung oder ein (weiterer) Schlaganfall hinzukommt. Dann stellt sich die Frage: Möchte man weiterhin am Leben erhalten werden oder sieht man in solchen Verschlechterungen eine Möglichkeit, aus dem Leben zu scheiden? In diesen drei Situationen muss man ganz unterschiedliche Überlegungen anstellen. In vielen Formularen ist oft nur die dritte Situation im Fokus, nicht aber der Notfall oder die Situation einer Urteilsunfähigkeit unklarer Dauer, obwohl diese sehr häufig vorkommt.

Was wird in einer ACP-Verfügung fixiert?

Zum einen wer die vertretungsberechtigten Personen sind. Es ist wichtig, mit seinen Angehörigen über die eigenen Vorstellungen zu sprechen. Dann werden in einem Standortgespräch die eigenen Wertvorstellungen, Lebensperspektiven und Behandlungsziele festgehalten. Was möchte ich noch erleben? Welche Situationen möchte ich auf keinen Fall erleben? Wo sind für mich Grenzen erreicht? In den Formularen können dann die Behandlungsziele hinsichtlich der drei genannten Situationen verbindlich festgehalten werden. Schliesslich gibt es die Möglichkeit, Wünsche für die letzte Lebenszeit in Bezug auf seelsorgerliche Begleitung, Körperpflege, Ernährung oder Therapien zu äussern oder Einzelheiten zu Organspende oder Bestattung zu regeln. Man kann sehr viel festlegen, aber man muss es nicht. Es soll niemand bedrängt werden. Wenn sich jemand in einer Frage nicht entscheiden kann, muss diese offenbleiben. In diesem Sinn ist es ein Prozess. Man muss immer überprüfen, ob die Verfügung für einen noch stimmt oder ob sich etwas verändert hat. Dafür ist jede*r selbst verantwortlich. Die Patientenverfügung erhält man als Dossier. Es gibt Überlegungen, dass man die letzte Version des Dossiers auf Wunsch in ein elektronisches Patientendossier (EPD) einspeist. Es wäre hilfreich, wenn in einem Notfall jede Klinik darauf zurückgreifen könnte. Eine solche Plattform ist beim Bund noch in Arbeit.

Was verbirgt sich hinter der ACP-NOPA Applikation?

Dies ist ein Programm, mit dem Patientenverfügungen erstellt werden. Damit arbeiten bereits viele Kliniken und Berater*innen. Es bietet die Möglichkeit, Patientenverfügungen auf einem geschützten Server zu speichern und jederzeit zu aktualisieren. Darüber hinaus kann man damit einen Notfallplan (NOPA) für Palliative-Care- Patient*innen erstellen. Dabei wird zusammen mit dem*der Patient*in und den Angehörigen besprochen und festgehalten, welches die Behandlungsziele sind und was beim Auftreten von Symptomen wie Schmerzen, Angstzuständen, Übelkeit oder Atemnot passieren soll. Die entsprechenden Medikamente und Materialien liegen dann vor Ort parat. In einem Notfallplan wird auch festgehalten, ob man in einer akuten Krise ins Spital eingewiesen werden oder zu Hause behandelt werden möchte, und wer einen dann betreuen wird.

Wann sollte man mit der Erstellung einer Patentenverfügung beginnen?

Wenn man das Bedürfnis dazu hat. Es soll nie ein Zwang sein. Man hat auch das Recht, nicht planen zu wollen. Es gibt inzwischen auch junge Menschen, die in eine Beratung kommen und im Blick auf einen möglichen Unfall eine Verfügung erstellen.

Sie haben betont, dass eine Patientenverfügung mit einer qualifizierten Begleitung erstellt werden sollte…

Ja, es ist eine ganz andere Art von Beratung, als sie Ärzte und Pflegende normalerweise durchführen. Sie sind es gewohnt, im Umgang mit Patienten Empfehlungen aus - zusprechen. Bei dieser Beratung geht es aber darum, dass man genau hinhört, wo eine Person steht und was sie wünscht, und gleichzeitig ihre Aussagen hinterfragt, Konsequenzen und Szenarien skizziert, die sich aus dem Verfügten ergeben, um sicher zu gehen, dass sie alles richtig verstanden hat. Das Beratungskonzept gibt es seit vielen Jahren. Es wurde international – insbesondere in Australien, den USA, Kanada und Deutschland – erprobt und immer weiter verfeinert. In der Ausbildung, die aus einem Grundkurs und aufbauenden Berater*innen-Kurs besteht, lernt man, wie man richtig nachfragt. 

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 1.9.20


Über ACP

Advance Care Planning ist ein international verwendetes Konzept im Gesundheitswesen, mit dem Ziel besser sicherzustellen, dass auch bei nicht urteilsfähigen Menschen die Behandlung an deren Wertvorstellungen ausgerichtet wird. Das ACP-Konzept nahm seinen Ausgang in den 1990er-Jahren in den USA und Kanada, breitete sich in den 2000er-Jahren im englischsprachigen Raum und Deutschland aus und wurde mit dem nationalen Forschungsprogramm NFP 67 «Lebensende» (2012- 2017) auch in der Schweiz zunehmend bekannter. Zahlreiche internationale, aber auch in der Schweiz durchgeführte Studien, Projekte und wissenschaftliche Publikationen befassen sich mit dem Konzept ACP. 
acp-swiss.ch/Red.

Monika Obrist, Co-Geschäftsleiterin von ACP Swiss und Geschäftsleiterin von palliative zh+sh.
Quelle: zVg
Monika Obrist, Co-Geschäftsleiterin von ACP Swiss und Geschäftsleiterin von palliative zh+sh.

 

 

 

 

 

 

 

Für Behandlungsteams ist es wichtig, die Behandlungsziele eines Patienten zu kennen.
Quelle: shutterstock.com
Für Behandlungsteams ist es wichtig, die Behandlungsziele eines Patienten zu kennen.

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