Problematik des assistierten Suizids in der Psychiatrie

Am 10. September ist Welttag der Suizidprävention. Im europäischen Vergleich ist die Suizidrate in der Schweiz deutlich überdurchschnittlich, wenn man die assistierten Suizide dazu zählt. Da bei rund 90 Prozent der Menschen, die sich töten, eine psychische Erkrankung besteht, ist gerade die Sterbebeihilfe in der Psychiatrie ein kontrovers diskutiertes Thema. Ein Gespräch mit André Böhning, Theologe und Systemischer Therapeut in der Psychiatrie St. Gallen Nord in Wil, der ein Buch zu dieser Thematik herausgebracht hat.

Die Themen Suizidprävention und assistierter Suizid scheinen auf den ersten Blick konträr. Sind sie das wirklich oder gehören beide zum selben Gedanken?

Es gibt eine inhaltliche Brücke, die man schlagen kann. Der Fakt, dass Suizide in der Schweiz zu 90 Prozent psychischen Erkrankungen vorausgehen. Beim Präventionstag geht es vor allem darum, dass die Gesellschaft Symptome und Gedankengänge erkennt, wie man Suizide verhindert. Es gibt verschiedene Mythen, beispielsweise, dass sich jemand nicht umbringt, wenn er*sie im Vorfeld quasi ankündigt, sich das Leben zu nehmen. Das stimmt einfach nicht. Wenn jemand solche Gedanken teilt, ist das meist ein Zeichen dafür, dass er*sie sich schon damit auseinandergesetzt hat. Wie ausgeprägt, sollte man im Gespräch herausfinden. 

Aufgrund der hohen Zahl an psychisch erkrankten Selbstmörder*innen betrifft die Suizidbeihilfe die Psychiatrie in besonderer Weise. Wo liegen hierbei die Herausforderungen?

Dass man nicht genau weiss, ob der Wunsch der*des psychisch Erkrankten nach einem assistierten Suizid ein Symptom für die Krankheit ist oder wirklich der authentische Wunsch dieser Person. Wenn jemand unter Schizophrenie leidet, könnte er oder sie beispielsweise Stimmen hören, die ihm oder ihr auftragen, das eigene Leben zu beenden. Im Prinzip muss dann herausgefunden werden, ob dies tatsächlich der Fall ist, denn dann wäre dies ein behandelbares Symptom. Ich hatte mit einem an Krebs erkrankten Mann zu tun, der sehr stark depressiv wurde. Er meinte, dass er bei einem positiven Befund – der gar nicht automatisch zum Tode führen muss – gleich mit EXIT aus dem Leben scheiden möchte. Nach der Behandlung jedoch ist dieser Wunsch völlig erloschen. Eine andere Patientin mit Chorea Huntington, einer schweren neurologischen Erkrankung, hatte gleichzeitig auch eine Persönlichkeitsstörung. Sie wollte sich das Leben nehmen, weil sie davon überzeugt war, nicht mehr so gut auszusehen wie früher. Auch hier kam es nicht zum assistierten Suizid. Meine Erfahrung in der Psychiatrie ist die, dass, wenn man in den Behandlungsprozess einsteigt, der Wunsch nach einem assistierten Suizid im Kontext einer psychischen Erkrankung weitgehend nicht stabil bleibt. Das ist aber eine juristische Voraussetzung. Es braucht einen dauerhaften Willen, wirklich aus dem Leben zu scheiden. 

Werden die Angehörigen in die Diskussion um einen assistierten Suizid mit einbezogen oder bleiben sie grösstenteils aussen vor?

Bei der Entscheidungsfindung werden sie in der Regel einbezogen. Aber danach gibt es keine Begleitung für die Angehörigen. Auch Sterbehilfeorganisationen scheinen nicht viel anzubieten, die Familie bleibt weitgehend alleine. Ich habe angefangen, Trauerseminare in der Theodosius Akademie in Hegne für Personen anzubieten, die von assistiertem Suizid betroffen sind. Das Thema, wie die Angehörigen den assistierten Suizid erlebt haben und wie sie dann im Nachhinein damit umgehen, wird in der Schweiz noch viel zu wenig beleuchtet. 

Wie wird die Urteilsfähigkeit gerade bei älteren Menschen festgestellt? Vor allem, wenn beispielsweise eine Person unter Demenz leidet?

Demenz ist ein Spezialfall. Hier geht die Urteilsfähigkeit schlichtweg verloren. Im Frühstadium der Demenz gibt es ein Testverfahren, um anhand verschiedener Fragen festzustellen, ob jemand beispielsweise noch logische Zusammenhänge versteht. Bei Demenzkranken ist der assistierte Suizid ausgeschlossen, was aber umstritten ist. Vor allem, weil die Demenz unter den psychischen Erkrankungen die häufigste Ursache für den Wunsch nach einem assistierten Suizid ist. Es gibt durchaus die Meinung, dass, wenn jemand mit einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung den Wunsch äussert mit EXIT aus dem Leben zu scheiden, dies als autonomer Wille ernst zu nehmen ist. Dabei stellt sich immer die Frage, wie weit die Selbstbestimmung und Autonomie geht und wie weit die Fürsorge. Das ist ein ethisches Dilemma. 

Welche psychiatrischen Perspektiven auf das Thema assistierten Suizid gibt es? Und was sind die die jeweiligen Gründe dafür oder dagegen?

Im von mir herausgebrachten Buch, das auf eine Tagung zurückgeht, die im Frühjahr 2019 in der Psychiatrie St. Gallen Nord stattfand, plädiert beispielsweise der Wissenschaftler und Forschungsleiter des Zentrums Psychiatrische Rehabilitation in Bern, Dirk Richter, sehr stark dafür, dass auch psychisch Kranken der assistierte Suizid möglich gemacht werden muss. Er sieht im Vergleich zu somatisch Erkrankten einen Verstoss gegen die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die eigentlich jede Art von Diskriminierung kranker Menschen ausschliesst. Gegen den assistierten Suizid von psychisch Kranken spricht, dass der Suizidwunsch bei Menschen mit einer körperlichen Erkrankung oft mehr Stabilität aufweist als jener bei psychisch Erkrankten.

Wie sehen die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz aus? Unter welchen Bedingungen ist assistierter Suizid heute legal?

Die Person muss urteilsfähig sein und die Suizidhilfe uneigennützig. Man darf keinen finanziellen Gewinn daraus ziehen oder früher auf ein Erbe spekulieren. Mehr regelt der Bund dazu nicht. Das führt zu einem Flickenteppich, weshalb es in der Schweiz keine einheitliche Haltung gibt. Anscheinend hat der Bund damals ganz bewusst so entschieden, um den assistierten Suizid nicht zu begünstigen, ihn aber entsprechend auch nicht zu verbieten. 

Wie gehen die Pflegekräfte in der Psychiatrie mit dem schwierigen Thema um?

In einem Team sind nicht alle immer einer Meinung, es kann verschiedene Haltungen geben. Im Kanton St. Gallen darf in einer kantonalen Einrichtung kein assistierter Suizid durchgeführt werden. Deswegen war sowohl die Tagung also auch das Buchprojekt anfangs sehr umstritten. Es wurde angenommen, ich wolle damit die politische Linie unterwandern. Meine Intention war es aber, die fachliche Auseinandersetzung anzuregen. Zum Umgang mit diesem hochsensiblen Thema gibt es in der Psychiatrie keine einheitliche Haltung. Bisher wurde die Entscheidungsfindung dem persönlichen Belieben Einzelner überlassen. Aus meiner Sicht ist hier noch ausreichend Gesprächsbedarf vorhanden, egal in welche Richtung das führt. Es gibt in der Schweiz auch erstaunlich wenig wissenschaftliche Fakten oder Studien darüber. Da sind andere Länder viel weiter. 

Was bedeutet der assistierte Suizid für Palliative Care?

Man tut den Sterbehilfeorganisationen unrecht, wenn man sie nur als unterstützendes Organ zum Sterben betrachtet. Für mich sind diese Organisationen auch eine Hilfe zum Leben. Die allermeisten, die sich dort hinwenden, entscheiden sich nach den intensiven Gesprächen um und nehmen die Hilfe gar nicht erst in Anspruch. Palliative Care versucht, die Lebensqualität auf dem letzten Weg grösstmöglich zu erhalten. Das ist nochmal eine ganze andere Herangehensweise, als nur das Thema Erlösung im Blick zu haben. 

Wie beurteilt man den assistierten Suizid unter ethisch-religiösen Aspekten?

Die Frage ist ja immer: Was ist ein Akt der Nächstenliebe? Jemandem von seinem Leiden zu befreien oder es nicht zu tun? Die einen berufen sich auf ihren Glauben, darauf, dass unser Leben in Gottes Hand liegt und wir nicht über Leben und Tod entscheiden dürfen. Darauf fusst letztendlich auch die Grundhaltung der katholischen Kirche weltweit, die den assistierten Suizid im Sinne von «aktiv den Becher mit der tödlichen Dosis reichen», entsprechend nicht fördern will. Doch beide Haltungen sind grundchristlich und beide Seiten stehen sich manchmal sehr unversöhnlich gegenüber. 

Was wünschen Sie sich von kirchlicher Seite aus? 

Manchmal eine andere Betrachtungsweise der Thematik. Für mich geht die Diskussion oft zu sehr in Richtung Anti-Sterbehilfe und als Konsequenz daraus zu wenig dahin, Palliative Care und die Hospizbewegung noch viel mehr zu stärken. Das sollten sowohl die Bischofskonferenz als auch die einzelnen Diözesen vorantreiben. Auch als Seelsorger*in sollte man sich die Frage stellen, ob und wie man einen Menschen auf diesem letzten Weg begleiten will. Meine Haltung ist da ganz simpel, wenn ich eine*n Bewohner*in lange kenne, gehe ich – aus Selbstschutz – nur bis zur Tür mit, aber nie mit in den Raum hinein. Ich würde den Menschen aber nicht alleine lassen. Aus seelsorgerlicher Sicht finde ich es schwierig, jemanden sich selbst zu überlassen, weil man sich gegen den assistierten Suizid ausspricht.

Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 3.9.21
 


Was bedeutet assistierter Suizid?

Darunter versteht man die Beihilfe zur Selbsttötung. Der Sterbewillige nimmt selbstständig eine Substanz zur Selbsttötung ein. Eine andere Person, das heisst ein Angehöriger oder nahestehender Mensch, ein Arzt oder Sterbehelfer hat hierzu einen Beitrag geleistet, beispielsweise die tödliche Substanz zur Verfügung gestellt.

Mehr Infos zum Welttag der Suizidprävention: www.npg-rsp.ch


Buchtipp: «Assistierter Suizid für psychisch Erkrankte» – Herausforderung für die Psychiatrie und Psychotherapie, mit Beiträgen von André Böhning, Christian Kind, Dirk Richter, Christiane Thomas-Hund, Verlag Hogrefe 2021, ISBN 978-3-456-86002-2

 

Dr. André Böhning, katholischer Theologe und Systemischer Therapeut in der Psychiatrie St.Gallen Nord in Wil.
Quelle: zVg
Dr. André Böhning, katholischer Theologe und Systemischer Therapeut in der Psychiatrie St.Gallen Nord in Wil.

 

 

 

Vor allem ältere Menschen tragen sich oft mit dem Gedanken, präventiv aus dem Leben zu scheiden, um niemandem zur Last zu fallen.
Quelle: pixabay.com
Vor allem ältere Menschen tragen sich oft mit dem Gedanken, präventiv aus dem Leben zu scheiden, um niemandem zur Last zu fallen.

 

 

 

 

Buch
Quelle: zVg
Buchtipp: «Assistierter Suizid für psychisch Erkrankte» – Herausforderung für die Psychiatrie und Psychotherapie,

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