Geschichten vom Waldfriedhof

Seit Anfang Jahr führt Markus Sieber jeweils am zweiten Samstag im Monat Interessierte über den Waldfriedhof. Dabei erzählt der ehemalige evangelische Pfarrer Geschichten zu den Gräbern, immer zu einem thematischen Schwerpunkt. So schenkte er an einem wechselhaften Samstagnachmittag im Mai verstorbenen Schaffhauser Politikern seine Aufmerksamkeit.

Schon am Vormittag beginnt es zu regnen und zu stürmen, in wenigen Stunden soll die Waldfriedhof-Führung stattfinden. Auf die besorgte Nachfrage am Telefon, zwecks Durchführung bei einer solchen Wetterlage, bleibt Markus Sieber jedoch optimistisch und hofft auf einen sonnigen Unterbruch. So ist es dann tatsächlich, als gegen halb drei die Besucher nach und nach vor der Abdankungskapelle eintreffen. Der dunkle Himmel hat sich Blau gefärbt, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern – und die Gruppe wächst allmählich auf zwanzig Personen an. Einige waren schon mehrmals dabei, für andere ist es eine Premiere.

Auf Entdeckungstour

«Ich nehme mir immer so viel vor, möchte am liebsten zu zwanzig Gräbern etwas sagen, doch das ist zu viel», sagt Markus Sieber. Für die Rundgänge recherchiert er meist lange in Zeitungs- oder Stadtarchiven, findet dabei nicht immer zu einer bestimmten Person etwas, doch «lernt dabei stets etwas dazu». Genau das motivierte ihn auch, diese Art der Friedhofsbegehung anzubieten: Er wollte zum Neuentdecken animieren. Aber auch zum Wiederentdecken, um die Erinnerung an alte Gräber wachzurufen, die mit der Zeit vielleicht in Vergessenheit geraten sind. Der ehemalige Lehrer und pensionierte Pfarrer, der zuvor langjährig in der Steigkirchgemeinde wirkte, führte schon im letzten Jahr sporadisch solche Spaziergänge durch. Ab diesem Jahr findet sein Herzensprojekt nun regelmässig und thematisch zu Schaffhauser Persönlichkeiten statt. Auf die Politik folgt deshalb in den Sommermonaten noch die Literatur und Kunst, im Herbst Wissens wertes über die Industrie sowie über Kirchen und Religionen.

Ein verwunschener Ort

Markus Sieber ist es wichtig, das Bewusstsein dafür zu wecken, den Tod mehr ins Leben zu integrieren. «Dass jedes Grab seine Geschichte trägt, hat mich seit jeher fasziniert und hier auf dem Waldfriedhof sind die Gräber in die Natur eingebettet und somit in das Leben», erklärt er. Anders als bei uns glaube man im Hebräischen, dass die Vergangenheit etwas sei, das vor einem liege und die Zukunft, weil man sie noch nicht kenne, hinter einem im Dunkeln. «Nichts ist wirklich vorbei, alles ist», sagt er. «Ein besonders schöner Friedhof», sei der 105-jährige einzige Schweizer Waldfriedhof, betont Markus Sieber und man kann ihm nur zustimmen. Jahrhundertealte, teilweise mit Moos verwachsene Grabsteine, die kaum mehr lesbare Inschriften zieren, liegen hier ruhig im grünen Halbdunkel, sind mit dem Wald um sie herum mit der Zeit verwoben. Ein verwunschener Ort, wie man ihn aus Märchen kennt. Er hat viel zu erzählen.

Graupel und Churchill

Beispielsweise die Geschichte des Architekts Albert Zeindler, der 1960 als erster Katholik in den Stadtrat gewählt wurde. Ein Ereignis deshalb, weil über 300 Jahre lang nach der Reformation der Katholizismus verboten war und die Katholiken in Schaffhausen erst 1883 mit Santa Maria ihre erste eigene Kirche bekamen. Oder die von Carl E. Scherrer, den langjährigen Schaffhauser National- und Kantonsrat, der nachts kübelweise Wasser über die Betrunkenen ergoss, die sich im Fischergässchen, wo er damals wohnte, erleichtern wollten. Mittlerweile ergiesst sich auch das Wasser wieder über den Köpfen der Besucher, um sich dann wenig später in Graupelschauer zu verwandeln. Doch die Gruppe will noch mehr Geschichten hören. Deshalb werden flugs die Schirme aufgespannt und die Tour zur Ruhestätte von Walther Bringolf fortgesetzt. Der Sozialdemokrat und ehemalige Kommunist, der ganze 46 Jahre National war, galt als grosser Bewunderer von Winston Churchill. Als dieser 1946 die Schweiz besuchte, unterbrach Bringolf extra seine Ferien, um mit improvisierter Garderobe ebenfalls am Empfang anwesend zu sein.

Die Runde endet an diesem Nachmittag bei Hermann Schlatter, der nur zwei Jahre, von 1918 bis 1919, als Stadtpräsident wirkte. «Im Herzen Sozialdemokrat zerbrach er am Generalstreik von 1914, weil er einen Staat vertreten musste, der militärisch gegen die Arbeiter vorging», erzählt Markus Sieber und schliesst damit seinen anderthalbstündigen Rundgang. Zeit, die wie im Flug verging.

Sarah Stutte (14.5.19)


Nächste Daten: www.nordagenda.ch, «Führung im Waldfriedhof»


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Markus Sieber erzählt lebendige und anschauliche Anekdoten von verstorbenen Menschen.

Bild: Sarah Stutte

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