Wie Zwingli die Bibel sah

Nach Zwingli ist kein Wort und keine Lehre so klar wie das Wort Gottes. Es erfasst den Menschen, der nach ihm sucht. Es erneuert und wirkt, versöhnt den Menschen mit Gott. Diese Rückorientierung zum Evangelium hatte radikale Veränderungen in Kirche und Gesellschaft zur Folge.

HISTORIE

Die Klarheit des Bibelwortes als Grundlage des Glaubens

Zwingli fand den Zugang zur Heiligen Schrift durch das intensive Studium der Kirchenväter. Das Neue Testament las er im griechischen Urtext. Mit den theologischen Schriften Luthers war er vertraut und lernte aus ihnen. Besonders stand er unter dem Einfluss des Humanisten Erasmus von Rotterdam. Das führte dazu, dass er unter dem humanistischen Blickwinkel einen eigenen Zugang zum Wort Gottes fand. Das lebendige Gotteswort der Bibel spricht die Menschen direkt an und führt sie zum Glauben: Das ist die Grundlage und der Schlüssel seines Denkens, so schreibt Peter Opitz, Professor für Kirchengeschichte und Leiter des Institutes für Schweizerische Reformationsgeschichte. Im Jahre 1522 schrieb Zwingli die Predigt «Die Klarheit und Gewissheit und Untrüglichkeit des Wortes Gottes».

THEOLOGIE

«Allein die Bibel» und «allein Christus» – zwei Seiten derselben Sache

Zwingli geht gemäss der theologischen Anthropologie von der menschlichen Befindlichkeit aus. Danach ist der Mensch einerseits als Ebenbild Gottes geschaffen, andererseits lebt er als Sünder vor Gott. Gottes Wort ist mächtig und spricht in die Seele des Menschen, dies weil die Seele des inneren Menschen nach dem Abbild Gottes geschaffen ist. Diese Sehnsucht ist dem Menschen ins Herz gelegt. Der äussere Mensch dagegen sträubt sich, weil in seinen Gliedern nach Paulus die Sünde wohnt. Daher ist es die Seele des Menschen, die nichts mehr erfreuen kann als das Wort Gottes. Wer dazu bereit ist, sich durch Gottes Geist erleuchten zu lassen, dem wird gegeben. Wie bei der Geburt Christi, wo die Hirten zuerst von der Klarheit umleuchtet wurden. Ausgangspunkt ist also Gott und nicht die Entscheidung des Menschen. So wie Christus spricht: «Deshalb habe ich euch gesagt, dass niemand zu mir kommen kann, es sei ihm denn von meinem Vater gegeben» (Joh 6,65). In seiner Predigt beschreibt Zwingli die Klarheit und die Gewissheit des Gotteswortes, welches an Mose, Abraham, Jacob, Micha, Jeremia und Elia erging. Gott spricht so klar, dass niemand mehr nach menschlicher Hilfe fragt. Undeutlichkeit rührt nach Zwingli nicht daher, dass sein Wort unklar ist, sondern dass Menschen in ihren Leidenschaften gefangen sind. Mit Jesus lädt Gott immer wieder ein: «Wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke» (Joh 7,37). Darin besteht die Kraft und das Licht des Bibelwortes, ist doch das Licht, das alle Menschen erleuchtet, in die Welt gekommen (vgl. Joh 1,9).

WIRKUNGSGESCHICHTE

Zwingli veränderte die Kirche radikal, nur Gottes Wort hat seine Berechtigung

Von Luthers Interpretation, wonach ein Christ in zwei Reichen lebt, dem Reich der Welt und dem Reich Gottes, hat Zwingli sich bewusst distanziert. Nach Luthers biblischem Verständnis schuldete der äussere Mensch im Reich der Welt Gehorsam der Obrigkeit; der innere seelische Mensch war Gott verpflichtet. Zwinglis humanistische Interpretation unterschied zwar biblisch begründet zwischen dem inneren und äusseren Menschen; er unterschied aber nicht zwischen zwei Reichen, in denen der Mensch lebt. Zwingli drängte daher zu sofortigen Veränderungen in Kirche und Gesellschaft. Kirche und Staat sah er dicht beieinander, Obrigkeiten sollten sich Christus zum Vorbild nehmen. Versteht sich, dass dies eine drastische Veränderung in Kirche und Gesellschaft zur Folge hatte. Musik, Bilder und Kirchenschmuck wurden radikal aus den Kirchen entfernt. Zwingli, Bullinger, Oekolampad, Vadian und andere galten als Gründer der reformierten Kirche. Die zwinglianische Reformation erstreckte sich über die Eidgenossenschaft bis in die Niederlande und erfasste manch deutsche Stadt.

Rosemarie Hoffmann (27.5.19)


HIER UND HEUTE: Der Philosoph Jürgen Habermas, der sich selber für «religiös unmusikalisch» hält, plädiert für religiöse Bindungen und für die christliche Liebesethik.

Eines steht fest, die Bibel ermutigt zur Gestaltung von Welt und Gesellschaft. Zwingli hat dies erkannt und gelebt. Moderne und Säkularisierung lassen heute wenig Raum für die Entdeckung des Wortes Gottes. Während das Christentum weltweit wächst, macht sich in Europa ein starker Abbruch der christlichen Tradition bemerkbar. Dies mit den Folgen, dass wir Leben und Tod, Sinn und Zukunft menschlicher Existenz nicht mehr deuten können. Im 21. Jahrhundert stehen Entkirchlichung aber auch religiöse Aufbrüche sich gegenüber. Kein Geringerer als der Philosoph Jürgen Habermas plädierte anlässlich seines 80. Geburtstages dafür, religiöse Sprache in die moderne Kommunikation ein zubringen. Das ist nötig, weil «so vieles zum Himmel schreit». Sie ist menschlich wertvoll und unverzichtbar im kommunikativen Geschehen. Sie eröffnet dem Atheisten neue Horizonte. Die Ideale der jüdisch-christlichen Wurzeln dürfen nicht verloren gehen. Das Christentum stellt seiner Meinung nach Werte bereit, um die Entgleisung in der Welt zu verhindern. Habermas erweist sich damit als  Brückenbauer zwischen Atheisten und Glaubenden.


 

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Illustrationen: Vida Sprenger

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