Ethik-Tag 2019 zum Umgang mit dem Sterbefasten

Am 12. November befasst sich das Ethikforum des Kantonsspitals Münsterlingen einen Tag lang mit dem freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Dazu finden Anlässe für Pflegepersonen sowie für die Öffentlichkeit statt. Als Gastreferent hält Prof. Dr. André Fringer einen Vortrag. Die Thematik gehört zu den Forschungsschwerpunkten des Medizin- und Pflegewissenschaftlers, der an der ZHAW in Winterthur tätig ist.

Was versteht man unter dem Begriff Sterbefasten?

Ganz plakativ gesagt fastet man, um zu sterben. So einfach, wie es tönt, so schwierig ist es. In manchen Fällen hätten die Patienten, die sich dazu entschliessen, noch lange zu leben. Andere leiden unter einer Krankheit und wollen den Leidensweg verkürzen. Wir sprechen nicht gerne vom Sterbefasten, weil der Begriff zu verharmlosend klingt. Eigentlich müsste man vom freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit sprechen.

Ist der Begriff Fasten nicht ohnehin irreführend, weil er normalerweise mit einem positiven Entschluss der bewussteren Gesundheits- und Lebensgestaltung einhergeht?

Das Phänomen des Sterbefastens kommt aus dem nahöstlichen, spirituellen Umfeld und dort stimmt die Bezeichnung. Denn die Menschen fasten und sterben dabei, um eine höhere Stufe der Erleuchtung zu erlangen. Wenn wir diesen spirituellen Begriff des Sterbefastens jedoch auf unseren Kontext übertragen, stimmt er nicht mehr.

Für wen kommt diese Möglichkeit überhaupt in Frage und was sind die unterschiedlichen Motivationen?

Für alle Menschen, die aus dem Leben scheiden wollen. Das kann das breiteste Spektrum umfassen, beispielsweise Krankheiten wie Anorexia nervosa (Magersucht, Anm. d. Red.). Darunter leiden Menschen, die eine generelle Abneigung gegen Essen entwickeln. Es gibt aber auch gesunde Personen im höheren Alter, die nicht mehr leben möchten. Einige sehen im Sterbefasten ein natürliches Ende des Leidens, das nicht als Suizid verstanden wird. Sie finden diese Entscheidung innerhalb ihres Verhältnisses zu Gott noch akzeptabel und glauben nicht, dass sie eine Sünde begehen.

Wir hatten den Fall einer 48-Jährigen, die aufgrund ihrer Multiplen Sklerose inkontinent wurde. Sie entschied sich für den Weg des Sterbefastens, weil sie ihre Konstitution so sehr beeinträchtigte, dass sie diese nicht mehr als lebenswert erachtete. Dann gibt es Menschen, die beispielsweise unter einer Kachexie leiden, also einem Gewichtsverlust bei einer Krebserkrankung. Der Zwang zu essen, um nicht zu sterben, führt dazu, dass diese Patienten irgendwann nicht mehr können.

Doch es gibt auch junge Menschen, die diesen Weg für sich wählen. In Holland gab es den Fall einer 16-Jährigen, die zwar kerngesund war, als Kind aber von mehreren Personen sexuell missbraucht wurde. Deshalb entschied sie für sich, mit Sterbefasten aus dem Leben zu scheiden.

Wie sieht die Situation bei den Demenzerkrankten aus?

Schwierig, vor allem wenn ein Demenzerkrankter sich im Vorfeld nie zum Sterbefasten geäussert hat. Dass dieser plötzlich nicht mehr isst und trinkt, kann auch andere Ursachen haben, wie beispielsweise Zahnschmerzen oder Schluckbeschwerden. Vielleicht ist es auch ein herausforderndes Verhalten der Erkrankten, weil darin ihre einzige Möglichkeit liegt, noch Autonomie zu zeigen. In jedem Fall müssen die Gründe abgeklärt werden. Dazu ist es wichtig, auch zu überprüfen, wie dieser Mensch in der Vergangenheit war, mit welchen Gedanken er sich auseinandergesetzt hat und wie er zu lebensverlängernden Massnahmen stand. Gefährlich wird es, wenn das Sterbefasten in der Praxis undifferenziert vermarktet wird und man bei jedem Demenzkranken, der nicht mehr Essen und Trinken will, sofort ans Sterbefasten denkt. Ein Mensch mit Demenz, der sich vorher schon intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und diesen Weg für sich vielleicht auch in einer Patientenverfügung festgehalten hat, wird später, unterstützt von Angehörigen, aus der Welt gehen können. Die meisten Patienten benötigen eine Art sozialen Anwalt, also jemanden aus ihrem Umfeld, der die Entscheidung mitträgt und über die Phase der Selbstbestimmung hinaus weiterträgt, weil viele von ihnen abhängig und pflegebedürftig werden.

Was bedeutet der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit für den Betroffenen in der Umsetzung und wie fühlt sich das für ihn an?

Die Patienten treffen ihre Entscheidung im Vorfeld allein. Dieser innere Prozess ist eine intensive Phase, die lange dauern kann, manchmal bis zu einem Jahr. Und selbst wenn man diesen Weg dann für sich gewählt hat, bedeutet das noch nicht, dass man das Vorhaben gleich umsetzt. Vielmehr hat man die Option im Blick und kann sich jederzeit dazu entschliessen, das Sterbefasten zu beginnen. Dann muss das soziale Umfeld eingeweiht und, falls man sich in einer professionellen Einrichtung befindet, diese davon in Kenntnis gesetzt, Einwilligungen eingeholt und den Ablauf organisiert werden. Hat man den Vorgang, der in den meisten Fällen auf drei Wochen ausgelegt ist, einmal begonnen, dauert es bis zu vier Tage, in denen man noch starke Hunger- und Durstgefühle verspürt. Wenn man diese überwunden hat, erlebt man Hochgefühle, wie beim normalen Fasten auch. Der Körper schüttet eigene Endorphine aus, man fühlt sich geistig fitter und hat einen klaren Blick auf sich und die Welt. Das Durstgefühl kann man gut unterdrücken, indem man täglich die Mundschleimhäute befeuchtet. Das Hungergefühl lässt nach vier Tagen nach und verschwindet dann völlig. Nach ungefähr einer Woche des Hochgefühls trübt man zusehends ein, das heisst, man wird schläfrig und dämmert vor sich hin. Die letzten drei Tage erlebt man dann tief schläfrig und pflegebedürftig, bis man stirbt.

Also leidet die Person nicht?

Doch, natürlich leidet sie, am Anfang vor allem Hunger. Symptome wie Schmerzen können sich, je nach Krankheit, auch verstärken. Mit Palliative Care kann man diesen Begleiterscheinungen aber entgegenwirken. Es kann auch sein, dass einige Menschen Verwirrtheitszustände entwickeln und im deliranten Zustand das starre Fasten unterbrechen. Wenn sie aber dann wieder klar sind, sind sie häufig sehr enttäuscht und starten einen erneuten Versuch.

Was bedeutet ein solcher Entschluss unter dem ethischen Aspekt für das Pflegepersonal und die Angehörigen in puncto psychische Belastung?

Wichtig ist, dass man die Entscheidung mittragen kann. Dazu gehört eine reflektierte und differenzierte ethische Haltung. Vielen Pflegeangestellten und Ärzten ist ihre Professionalität wichtig. Sie können deshalb nicht akzeptieren, dass sich Patienten dazu entschliessen. Noch wichtiger ist es aber, den Willen eines Menschen zu respektieren. Häufig sind Professionelle gar nicht in der Lage, zu beurteilen, ob dieser Entschluss jetzt gut ist oder nicht, das muss der Betroffene wissen. Für die Angehörigen ist es teilweise noch viel schwieriger. Viele entscheiden sich ab der dritten Woche nicht mehr zu kommen, sondern nur noch mit ihren Liebsten zu telefonieren. Weil sie diejenigen in positiver Erinnerung behalten möchten und nicht als eingefallene und ausgemergelte Schatten.

Wie sieht es mit der rechtlichen Absicherung beim Sterbefasten aus?

Wenn als Nebendiagnose eine Depression ausgeschlossen wurde und der mutmassliche Wille des Patienten bekannt ist, muss man diesen berücksichtigen. Kein Arzt darf das Sterbefasten dann in Frage stellen.

Inwiefern unterscheidet sich das Sterbefasten vom Angebot von Sterbehilfsorganisationen?

Wirkt die Tablette, die man unter Aufsicht von einer Sterbehilfsorganisation bekommt, und verspürt man plötzlich Todesangst, ist ein Umkehren nicht mehr möglich. Lässt man sich auf das Sterbefasten ein, können die wenigen Wochen, die einem noch bleiben, eine unwahrscheinliche Bedeutung für die Betroffenen und die begleitenden Personen haben.

Kann man sich auch noch umentscheiden?

Ja, aber nur innert einer gewissen Zeitspanne von sieben Tagen. Wenn dieser Punkt überschritten ist, schädigt man seine Organe auf irreversible Art und Weise.

Ist Sterbefasten also die humanere Möglichkeit, aus dem Leben zu gehen?

Vielleicht ist es gar nicht humaner. Zumindest nicht für die Betroffenen, weil es schwieriger ist, als eine Tablette zu schlucken. Aber es ist sicher die familienfreundlichere Option, weil sie für das Umfeld akzeptabler ist, der Abschied ist natürlicher.

Interview: Sarah Stutte (5.11.19)


Ethik-Tag 2019, 12. November, 9 bis 21 Uhr, Lobby Kantonsspital Münsterlingen
www.palliative-ostschweiz.ch, unter Veranstaltungen.


 

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Prof. Dr. André Fringer hält am 12. November in Münsterlingen einen Vortrag zum Thema Sterbefasten.

Bild: zVg

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