Sein Todestag jährt sich dieses Jahr zum 500. Mal

Der Künstler, Anatom, Naturphilosoph und Erfinder, der am 2. Mai 1519 im französischen Amboise starb, fasziniert uns bis heute, obwohl oder gerade, weil er nicht fassbar ist. Der Historiker Volker Reinhardt, Geschichtsprofessor an der Universität Fribourg, beschäftigt sich seit 40 Jahren mit der italienischen Renaissance. Kürzlich ist sein Buch über da Vinci erschienen, in dem er versucht, Licht ins Dunkel zu bringen.

Mit Ihrem im letzten August erschienenen Buch «Das Auge der Welt» haben Sie quasi das Da-Vinci-Jahr eingeläutet. Was ist darin Neues über den Künstler zu lesen?

Wir wissen relativ wenig über Leonardo da Vinci und werden den definitiven Leonardo vermutlich nie greifen können. Ich versuche, sehr viele Hypothesen, Vermutungen und Annahmen, die im Laufe der Zeit unberechtigterweise zu Tatsachen erhärtet worden sind, zu hinterfragen. Aber auch, Ersatz für diese eher zweifelhaften Quellen im literarischen OEuvre Leonardos zu finden. In diesen bemerkenswert konzentrierten Texten formuliert Leonardo seine Sicht des Menschen auf die Welt relativ deutlich. Offensichtlicher als in Zeichnungen und Gemälden. Ich habe mich also der Erschliessung des eher vernachlässigten und verschütteten Leonardo gewidmet und versucht, von dieser Seite aus seine Gemälde und Manuskripte zu deuten.

Was ist der Grund, dass wir immer noch so wenig über ihn wissen?

Das hat verschiedene Gründe. Einerseits wollte er der Welt bewusst ein Rätsel sein und bleiben. Er war ein Aussenseiter und fühlte sich von der kulturellen Elite seiner Zeit gemobbt. Darauf reagierte er mit einer bewussten Imagebildung, die das Besondere, das Unerklärliche und Rätselhafte in den Vordergrund stellte. Zum anderen stand er ganz zu Beginn einer Entwicklung, die dann in die moderne Naturwissenschaft mündete. Er ist einer der ersten Europäer, die davon ausgehen, dass die Welt in ihrer natürlichen Beschaffenheit nicht bekannt ist und erforscht werden muss. Als Pionier dieser Forschung fand er noch keine erprobten wissenschaftlichen Zugänge vor. Deshalb sind viele seiner Zeichnungen und seine Kommentare dazu noch in der Schwebe und unklar. Ein weiterer Grund ist der, dass Leonardo kaum persönliche Dokumente hinterlassen hat.

Heute sieht man da Vinci als Genie und seiner Zeit weit voraus, doch wie wirkte er auf seine Zeitgenossen?

Als äusserst unzuverlässiger Künstler, der seine göttliche Begabung verschleuderte. Leonardo nahm Aufträge an, die er nicht fertigstellte, nicht auslieferte oder entscheidend veränderte. Er verweigerte Bestellungen von hochgestellten Persönlichkeiten und entzog sich somit dem Rollenschema, dass ein Künstler den Mächtigen devot zu Diensten sein muss. Das hat man ihm übel genommen. Ein Künstler, der seine Auftraggeber vor den Kopf stösst, diskreditiert das ganze Gewerbe.

Leonardo stammte aus Vinci, in der Nähe von Florenz. Wie ist er aufgewachsen und wie lebte er?

Florenz war damals eine oligarchische Republik, in der die Medici an der Spitze eines Netzwerks regierten und der Ort Vinci war Teil dieses Herrschaftsgebietes. Leonardo wuchs als unehelicher Sohn eines Notars in dessen Haushalt auf und wurde gegenüber dessen ehelichen Kindern deutlich zurückgesetzt. Er bekam keine humanistische Ausbildung und konnte deshalb kein gehobenes Latein. Das war in etwa so, als ob man heute ohne Englisch in der Naturwissenschaft Karriere machen will.

Wie wirkte sich der Umstand, dass er keine höhere Bildung genoss, auf ihn aus?

Prägend, in vielerlei Hinsicht. Er fühlte sich minderwertig, weil er nicht mit den wortgewandten und gut vernetzten Intellektuellen an den Fürstenhöfen mitreden konnte. Der Zugang zu den grossen antiken Texten blieb ihm damit verwehrt. Andererseits war er stolz darauf, eigene Wege gehen zu müssen, zumal auch die Naturforschung in der humanistischen Ausbildung damals nicht vorkam. Aus dieser Opposition zur humanistischen Kultur stellte Leonardo eine ganz andere Rangordnung auf. Für ihn praktizierte der Maler die höchste aller Künste und Wissenschaften. Dies, weil der Mensch durch das Auge gelenkt und manipuliert wird und ein geschickter Maler menschliche Gefühle steuern kann.

Stand er deshalb jeder etablierten Überzeugung, auch religiöser Natur, skeptisch gegenüber?

Wahrscheinlich. Wie er zu diesen vom Christentum stark abweichenden Weltsichten gelangt ist, können wir schwer nachzeichnen. Seine Überzeugungen brechen sich ab den 1480er-Jahren in seinen Zeichnungen und Texten. Ich glaube, dass er zu dieser Sicht der Welt empirisch, durch seine Beobachtungen der Natur und dem Sezieren von toten menschlichen Körpern gekommen ist. Diese Überzeugung drückte sich so aus, dass die Natur ewig ist und es eine belebende Kraft gibt, die alles Hervorbringende durchdringt. Leonardo hielt die Datierungen in der Bibel für nicht zutreffend. Seine Forschungen zu den Fossilien im Apennin führten ihn zur Ansicht, dass die Welt viel älter sein muss als 6000 Jahre und es eine tiefere Dimension der Vergangenheit gibt.

Vordergründig wirken da Vincis Bilder christlich, doch wie sind sie inhaltlich zu verstehen?

Betrachtet man beispielsweise die heilige «Anna selbdritt», dann erkennt man, dass der Jesusknabe das Lamm malträtiert, er bricht ihm meiner Meinung nach den Hals. Das ist theologisch nicht auflösbar, denn Christus ist das Lamm Gottes, das sich für die Menschheit opfert. Seine nichtchristliche Sicht der Welt schlug sich darin nieder, dass er das heilige Geschehen radikal vermenschlichte. Seine beiden Johannes der Täufer-Bilder lösen sich auch sehr von der biblischen Vorlage, verkehren sie eigentlich ins Gegenteil. Sein Johannes ist eine androgyne Gestalt von schwellender Fleischlichkeit. Leonardo malte christliche Themen, aber er verlieh den traditionell überlieferten Bildgegenständen seinen eigenen Sinn.

Es heisst, da Vinci war homosexuell oder zumindest bisexuell. War das damals genauso offensichtlich?

Die eingeweihten Kreise müssen es gewusst haben, denn verborgen hat er es nicht. Auch geben seine Bilder und Zeichnungen Rückschlüsse darauf. Scheinbar unterhielt er auch eine lange Beziehung zu seinem Auszubildenden. Man sprach es aber nicht offen aus und tolerierte es mit Verschwiegenheit.

Warum war da Vinci von der Sterblichkeit des Menschen so eingenommen und wie sind seine Erkenntnisse aus heutiger Sicht zu beurteilen?

Vieles in seinen anatomischen und biologischen Forschungen ist erstaunlich innovativ. Seine Studien zum Vogelflug sind von verblüffender Modernität. Das gilt auch für seine anatomischen Zeichnungen, die von bestechender Genauigkeit und Präzision sind. Dies jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt, ab da fing er an zu spekulieren. Er legte bestimmte Körperteile frei, zeichnete sie sehr lebendig nach, zog dann aber Schlussfolgerungen, die nicht mehr auf Beobachtungen fussten. Letzten Endes ging er immer noch von einem übergeordneten Denkschema aus, nämlich, dass der Körper des Menschen in der Analogie zum Wasserkreislauf der Erde steht. Das hat ihn nicht selten auch zu Ergebnissen geführt, die heute falsch sind. Das mindert aber nicht die Einzigartigkeit dieser Forschung.

Wer war Leonardo da Vinci für Sie und was fasziniert Sie persönlich an ihm?

Mich fasziniert seine konsequente Positionierung ausserhalb des Mainstreams seiner Zeit. Dieser fast grenzenlose Mut, gegen scheinbar bewiesene Gewissheiten anzudenken und sich den Zeitgenossen, von denen er keine Anerkennung erfuhr, konsequent zu verrätseln. Diesen Weg ging er gelassen zu Ende, mit einer grossen Geringschätzung für Werte, Ruhm und Geld. Heute würden die Kids sagen: Leonardo war wirklich sehr cool. Er hatte den Mut, so zu leben und seine Überzeugungen auch kompromisslos umzusetzen. Das ist eine ungewöhnliche Lebensleistung.

Interview: Sarah Stutte (15.4.19)


Buchtipp

«Das Auge der Welt»

Leonardo da Vinci – Maler der Mona Lisa, visionärer Konstrukteur von Flugapparaten und Zeichner des ideal proportionierten Menschen – ist als prototypisches Universalgenie der Renaissance weltberühmt. Doch er war auch ein Künstler, der vor allem gegen seine Zeit lebte: gegen die wortverliebten Humanisten, gegen das naturfeindliche Christentum, gegen den Glauben der Alchemisten an verborgene Kräfte der Natur. Für Leonardo galt nur, was das Auge sieht, und seine Mission war es, sehend, zeichnend und malend zum Auge der Welt zu werden. Volker Reinhardt hat die Notizbücher Leonardos neu gelesen und kann so quellenbasiert gängige Mutmassungen über sein Leben und Werk korrigieren. Vor allem aber gibt er dem Aussenseiter seine subversive Sperrigkeit zurück – und sein Geheimnis.

Autor: Volker Reinhardt
Verlag: C.H.Beck ISBN: 978-3-406-72473-2


 

"

Volker Reinhardt ist seit 1992 als Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg tätig. Er gilt als Experte für die italienische Renaissance.

Bild: zVg

 
 
"

Vordergründig christlich, inhaltlich kritisch:
Leonardo Da Vincis Bild «Anna selbdritt».

Bild: Dcoetzee/Wikimedia Commens

 

 

 

 

 

 

 

"

Kommentare

+

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.