Wissenswertes zur Kampagne «Wie geht's dir?»

Das Leben verläuft nicht immer gleich. Jedem von uns kann es passieren, dass er sich stark belastet fühlt oder sogar in einer Krise vorfindet. In solchen Situationen ist es hilfreich, sich jemand anderem anzuvertrauen. Die Kampagne «Wie geht's dir?», auf die schweizweit mit Plakaten hingewiesen wird, möchte Betroffene und ihr Umfeld ermutigen, über psychische Belastungen offen zu reden. 

Ein paar Wochen nach der Trennung von ihrem Freund bemerkt Sonja M. (Namen geändert), dass sie immer wieder müde ist. Sie vermutet, dass ihre Ermüdung mit der Trennung zu tun hat, meint aber, dass sie so vergeht, wie sie gekommen ist. Sie hatten sich ja im Guten getrennt. Da gibt es doch keinen Grund, traurig zu sein. Sie bemerkt, dass das Aufstehen morgens zur Qual wird, obwohl sie gern arbeitet. Sie sagt auch Freunden ab, streicht Pläne, wandern zu gehen, obwohl sie sich darauf gefreut hat. Im Nachhinein ist sie unzufrieden, weil sie das ganze Wochenende drinnen war, zu viel gegessen und nur Serien geschaut hat.
Und dann klingelt ihre Nachbarin und weist sie freundlich darauf hin, dass Sonja mit ihrer Wäsche seit einer Woche den Trockenraum blockiere. Sie schaut die Nachbarin an und sagt nichts. Sie möchte reden, aber es geht nicht. Die Nachbarin ist verunsichert und fragt: «Alles in Ordnung mit dir?» Als Sonja mit grösster Kraftanstrengung antworten möchte, «Ja, alles bestens!», bricht sie in Tränen aus. 

Unbemerkter Ballast
Die Nachbarin könnte nach kurzem Erstaunen Sonja ein Papiertaschentuch hinhalten, sie erst einmal weinen lassen und danach zu einem Kaffee einladen. Die beiden könnten über die Trennung, ihre Zweifel und ihre Erfahrungen ins Gespräch kommen. Dadurch könnte Sonja etwas Erleichterung erfahren, sich vielleicht etwas mehr über sich selber klar werden oder sich sogar dazu entscheiden, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Chance könnte aber auch vertan werden, wenn sich Sonja wieder in ihr Schneckenhaus zurückzieht oder die Nachbarin sich irritiert dem unerwarteten Hilferuf verschliesst. Dann wäre Sonja wieder auf sich selbst zurückgeworfen. 
«Viele tragen ein Thema mit sich wie einen schweren Sack, ohne es zu merken», weiss Doris Grauwiler aus Erfahrung. Die Psychologin arbeitet als Leiterin des Bereichs Gesundheitsförderung und Prävention bei der Perspektive Thurgau. «Sie merken erst, wie sehr sie psychisch belastet sind, wenn sie die Last abgeben können.» Diese Belastungen hätten nicht in jedem Fall psychische Erkrankungen wie zum Beispiel eine Sucht zur Folge, würden aber die Lebensqualität der Betroffenen unbemerkt beeinträchtigen. «Ältere Menschen können dann zum Beispiel das Gefühl haben, vom Leben betrogen worden zu sein», so Grauwiler. 

Einblick in psychische Erkrankungen
Man könnte vermuten, dass mit der Pandemie und den Sorgen, die der Ukrainekrieg ausgelöst hat, psychische Erkrankungen und damit der Bedarf an Beratungen zugenommen haben. Doch dem ist nicht so. «Eine Zunahme psychischer Erkrankungen ist nicht festzustellen. Es wird zum Glück mehr darüber geredet. So entsteht der Eindruck einer Zunahme», sagt Doris Grauwiler. «Allerdings sind die belastenden Situationen komplexer geworden.» Die Menschen würden durch verschiedene Medien eine Flut an Informationen erhalten, während das eigene Leben sie auch fordert. Hinzu kommt Hilflosigkeit gegenüber bedrohlichem Weltgeschehen, was die Belastung verstärkt. 
Ein Ziel der Kampagne ist es auch, über psychische Erkrankungen aufzuklären. An erster Stelle stehen bei den Erwachsenen stoffgebundene Suchterkrankungen (Alkohol und Tabletten), gefolgt von Depressionen und unspezifischen Ängsten, Zukunftsängsten und Panikattacken. Doch bei dieser Aufzählung fügt Doris Grauwiler einschränkend hinzu: «Es handelt sich um komplexe Zusammenhänge. Nicht selten treten Kombinationen von Erkrankungen auf. In der Krankheit zeigt sich immer das Ergebnis. Die Ursache liegt oft in der Vergangenheit.» 

Achtsam gegenüber sich selbst
Bei körperlichen Erkrankungen merken wir schnell, dass mit uns etwas nicht stimmt. Wenn sich psychischer Ballast anhäuft, tun wir uns schwerer damit, dies wahrzunehmen. Anzeichen können sein, dass man sich zurückzieht, weniger Kontakt mit anderen hat, sich selbst weniger annehmen kann, keine Energie mehr hat, irgendetwas zu unternehmen, sich schlecht konzentrieren kann, keine Lust mehr für kreative Tätigkeiten wie lesen oder Musik hören empfindet. «Schlecht schlafen können, zu viel oder kaum etwas essen, sind weitere Warnsignale», erklärt Doris Grauwiler. 
Doch oft wollen wir diese Signale gar nicht wahrnehmen, wollen uns unsere Belastung gar nicht eingestehen. «Viele gehen gegen die Symptome vor, z. B. mit Tabletten, legen sich Ausreden parat wie ´Es gibt gerade keine guten Bücher´», so die Psychologin. Letztlich würden die heutige Mobilität und Hektik dazu beitragen, dass bei vielen Menschen die Achtsamkeit sich selbst gegenüber verloren gehe. Deshalb sei es wichtig, diese Achtsamkeit wieder einzuüben, wenn möglich schon bei Kindern in der Schule. 

Reden hilft
Wenn man solche Anzeichen wahrnimmt und sich seine Belastung eingestehen kann, sollte man damit nicht alleine bleiben. «Reden hilft auf jeden Fall. Es muss nicht der*die Ehepartner*in sein, es kann auch eine Person sein, der man besonders vertraut - der man zutraut, das Gesagte gut aufzunehmen», bestätigt Doris Grauwiler. Denn dadurch, dass man über sein Problem spricht, dass man es mit jemanden teilt, wird man entlastet, spürt man, dass man damit nicht alleine ist. Wenn das Gegenüber offen reagiert, fühlt man sich wahrgenommen, wertgeschätzt und in seinem Selbst gestärkt. Allerdings ist der erste Schritt für Betroffene nicht einfach. Eine Broschüre bietet dafür Hilfe mit Hinweisen und Gesprächseinstiegen wie «Mir geht es nicht besonders. Kann ich mal mit dir darüber reden?».

Jeder kann zuhören
Damit Menschen sich in ihrer seelischen Not öffnen können, braucht es ein Umfeld, das sensibel für sie ist und bereit dazu, sich auf schwere Themen einzulassen. Psychische Belastungen bei anderen wahrzunehmen, ist nicht immer einfach. «Es gibt keine spezifischen Zeichen dafür, Menschen reagieren unterschiedlich. Aber ein Hinweis kann sein, dass sich ein Mensch auf einmal verändert», sagt Doris Grauwiler. Wenn z. B. ein eher ruhiger Mensch aufgeregt wirkt, kann dies darauf hindeuten, dass es ihm nicht gut geht. Mit der Frage «Wie geht´s dir?» kann man klären, ob man richtig liegt, und signalisiert Interesse am anderen. Diese Frage ist ganz offen und neutral. In ihr schwingt keine Bewertung mit. 
Kann sich das Gegenüber auf das Angebot einlassen, ist gutes Zuhören angesagt. «Das bedeutet: sich interessieren, mitfühlen, ohne Wertung und ohne Anspruch, eine Lösung zu finden. Es geht um Mitgefühl, nicht um Mitleid», sagt Doris Grauwiler. Eine weitere Voraussetzung für solche Gespräche sei, dass man genügend Zeit mitbringe. Sei man in Eile, könne man einen geeigneten Termin vereinbaren. Zudem betont Doris Grauwiler, dass diese Form des Gesprächs keine Ausbildung brauche: «Jeder kann wertfrei und mitfühlend zuhören.» Manche hätten Angst davor, dass sie Nöte auslösten, wenn sie jemanden auf seine Befindlichkeit ansprächen. «Das ist nicht so. Die Nöte waren schon vorher da.»

Gute Gesundheit
Ein weiteres Anliegen der Kampagne ist es, psychischen Belastungen vorzubeugen. Für Doris Grauwiler ist körperliche Bewegung die beste Prävention: «Spazierengehen und Laufen bringen die Gedanken in Bewegung, verändern die Perspektive. Unser Hirn entscheidet letztlich, wie ich die Welt sehe.» Auf einer Karte mit dem Titel «10 Schritte für die psychische Gesundheit», die von der Perspektive Thurgau mitentwickelt wurde, werden verschiedene Haltungen und Verhaltensweisen dargestellt, die eine gute psychische Gesundheit fördern. «Diese Karte kann als Checkliste dienen. Sie regt an, sich zu fragen, ob man gut mit sich selbst umgeht, wann man das letzte Mal mit jemanden telefoniert hat oder ob man Hilfe annehmen kann», sagt Doris Grauwiler.
Ein wichtiger Faktor ist für sie auch der persönliche Glauben. Er gebe den Menschen Wurzeln, die gut tun, ein Vertrauen, das trägt. Dabei spiele es keine Rolle, ob man vor einer Buddha-Figur meditiere oder in eine Kirche gehe. «Die Bedeutung der Spiritualität wird unterschätzt. Sie führt einen zu einem selbst und zur Schönheit der Welt», so die Psychologin. Deshalb spricht sie sich auch dafür aus, dieses wertvolle Geschenk an die eigenen Kinder weiterzugeben. Diese könnten später selbst entscheiden, was sie damit machen würden. 

Detlef Kissner, forumKirche, 29.09.2022


Aktuelles Stimmungsbild
Das gfs.bern hat mithilfe des Selbst-Checks der Kampagne «Wie geht´s dir?» rund 4‘000 Einwohner*innen der Schweiz repräsentativ nach ihrer psychischen Befindlichkeit befragt. Knapp 10% gaben an, dass ihre psychische Belastung sehr hoch sei, ca. 30% schätzen sie hoch und 31% mittel ein. Damit sollten sich knapp drei Viertel der Bevölkerung aktiver um ihre psychische Gesundheit kümmern. Frauen sind insgesamt öfter sehr hoch oder hoch psychisch belastet (43%) als Männer (35%). Ausserdem scheint die psychische Belastung mit zunehmendem Alter geringer zu werden. In der Generation Z (Jahrgänge 2000 bis 2012) fühlen sich 26% sehr hoch und 30% hoch psychisch belastet, während bei den Millennials (1981 bis 1999) und der Generation X (1965 bis 1980) nur etwa 10% angeben, sehr hoch psychisch belastet zu sein. Bei der Babyboomer-Generation (1946 bis 1964) sind es sogar nur 5%.

 


Informationen und Materialien zur Kampagne auf: www.wie-gehts-dir.ch und www.perspektive-tg.ch 

Doris Grauwiler
Quelle: Detlef Kissner
Doris Grauwiler, stellvertretende Geschäftsleiterin der Perspektive Thurgau

 

 

Ein Ausschnitt aus dem Kampagnen-Plakat, dem ABC der Gefühle
Quelle: © Pro Mente Sana
Ein Ausschnitt aus dem Kampagnen-Plakat, dem ABC der Gefühle

 

 

Eine Karte zur psychischen Gesundheit
Quelle: © pro mente oberösterrreich
Mithilfe dieser Karte kann man nachprüfen, was man für seine psychische Gesundheit tun kann.

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