Eine Exkursion des Interreligiösen Arbeitskreises

Zur Woche der Religionen bietet der Interreligiöse Arbeitskreis im Kanton Thurgau am 11. November eine Stadtführung an, die Geschichten von jüdischen Menschen aus sieben Jahrhunderten enthüllt. Anschliessend gewährt der Rabbiner Einblicke in die heutige jüdische Gemeinde von St. Gallen.

Die narrativen Stadtführungen des gebürtigen St. Gallers Walter Frei sind kein Geheimtipp mehr. Der pensionierte Pfarrer und leidenschaftliche Lokalhistoriker erzählt an markanten Stellen in der Altstadt von jüdischen Mitmenschen, die die Stadtgeschichte mitgeprägt haben. Bis ins 19. Jahrhundert nannte man die Hinterlaube 'Judengasse'. Im frühen Mittelalter haben sich dort jüdische Familien angesiedelt. Später wurden Juden durch die einflussreichen Zünfte von vielen Berufen ausgeschlossen. Mit dem «sündigen» Geldhandel, der ihnen gestattet war, erhielten sie neidvolle und missgünstige Schuldner. Als Sündenbock für die grassierende Pestepidemie in ganz Europa mussten Juden herhalten. So verbrannte man 1349 auch in St. Gallen alle Bewohner der Judengasse, und die Stadt zog deren Besitz ein.

Staatliche Anerkennung

Erst seit den 1860er-Jahren erhielt eine jüdische Minderheit Wohn-, Bürger- und Grundbesitzrechte sowie das Recht auf freie Religionsausübung. Jüdische St. Galler*innen konnten sich erstmals versammeln, und zwar im Hotel «Hecht» am Marktplatz, um ihre Gemeindegründung zu organisieren. Eine nahe gelegene kleine Fabrik diente zunächst als Gebetsraum. Aus München wurde ein Rabbiner und ein Gemeindediener als Schächter in die Textilstadt berufen. Die jüdische Gemeinde weihte mit vielen Nichtjuden die Synagoge im Maurischen Stil 1881 feierlich ein. Die staatliche Anerkennung förderte die jüdische Immigration und die Ansiedlung eigener Firmen. Gerade auch jüdische Pioniere verhalfen der St. Galler Wirtschaft, insbesondere der Stickerei-Industrie, zur Blüte. Das Stadtleben bereicherte ebenso der jüdische Theodor Neumann aus Wien, indem er 1902 das beliebte «Neumanns Wiener Café» an der Ecke Marktgasse/Spitalgasse errichtete. «Wo heute eine Buchhandlung ist, sieht man noch auf der Rückseite des Hauses die farbig gemalten Jugendstilfenster», verrät Stadtführer Frei und erzählt vom Aufstieg und der Diffamierung Neumanns.

Illegale Flüchtlingshilfe

Der jüdische Kaufmann Sidney Dreifuss (1899-1956), der Vater der späteren Bundesrätin Ruth, leitete während der Nazi-Zeit die israelische Flüchtlingshilfe. Bis 1938 konnten jüdische Flüchtlinge legal einreisen. Danach unterstützte ihn der kantonale Polizeipräsident Paul Grüninger (1891-1972), indem er jüdische Flüchtlingspässe für Illegale rückdatieren liess. Deswegen wurde Grüninger 1939 fristlos entlassen, verurteilt und erst 1995 postum begnadigt. Zu seiner Ehre gibt es den Grüningerplatz in St. Gallen. «Heute ist das ein bevorzugter Platz für Menschenrechts-Demos», hebt Walter Frei hervor.

Judith Keller, forumKirche, 20.10.21


Nähere Infos zur Exkursion: www.keb.kath-tg.ch. Im Anschluss an die Stadtführung empfängt der Rabbiner Dr. Tovia Ben-Chorin die Besucher*innen in der Synagoge, um vom Leben der heutigen kleinen jüdischen Gemeinde zu berichten.

Stadtführer Walter Frei macht Stadtgeschichte durch berührende Geschichten lebendig.
Quelle: © Reto Martin, St. Galler Tagblatt
Stadtführer Walter Frei macht Stadtgeschichte durch berührende Geschichten lebendig.

Kommentare

+

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.