Christoph Wrembek wagt eine neue Perspektive

Judas – der Name wurde geradezu zum Inbegriff des Verräters: Judas, der Jesus des Geldes wegen seinen Gegnern preisgibt. Oder Judas, der aus Unzufriedenheit und aus politischen Gründen Jesus verrät. In den letzten Jahren versuchten manche eine Neubewertung dieser schillernden Figur. Unser Autor, der Jesuit Christoph Wrembek, ist schon öfters mit originellen Büchern zu biblischen Themen aufgefallen. In seinem Beitrag versucht er eine Neudeutung des Judas.

Im Burgund, in der Kathedrale von Vézelay, findet sich in 12 Metern Höhe ein merkwürdiges Kapitell, ganz oben unter der Decke, über Jahrhunderte fast versteckt. Es zeigt drei Gesichter: Da ist zunächst Judas, der sich erhängt hat. Daneben ist Jesus zu sehen, der gute Hirte. Auf seinen Schultern findet sich das dritte Gesicht. Denn Jesus trägt hier nicht einfach ein verlorenes Schaf, er trägt auf seinen Schultern vielmehr den toten Judas nach Hause.

Der letzte Apostel – ein Fremder
Judas Iskariot – wer war dieser Mann? Der Name Judas war zur Zeit Jesu ein bedeutungsvoller, ein ehrenhafter Name. Er erinnerte an Judas Makkabäus, einen berühmten Freiheitskämpfer. Iskariot bedeutet «der Mann aus Kariot», das ist ein kleines Dorf bei Hebron. Judas stammte also aus der Wüste, aus Judäa. Die anderen Jünger stammten aus der Gegend um den See Genesareth, also aus Galiläa. Sie waren Fischer. In diesem Kreis war Judas vermutlich ein Fremder, vielleicht einer, der sich nicht zu Hause fühlte.
Die Apostellisten nennen ihn immer an letzter Stelle. Während andere Apostel meist als Paar auftreten, steht Judas immer allein. Wie Judas nach Galiläa kam, das wissen wir nicht. Vielleicht gehörte er ursprünglich zur Gruppe um Johannes den Täufer. Demnach war er einer, der auf das Kommen des Messias wartete. Sie warteten auf einen, der mit Macht die römischen Besatzer davonjagen würde.
Jesus nahm Judas in den Kreis der Zwölf auf, aber er blieb ein Aussenseiter. Und er verspürte wachsende Ungeduld darüber, dass Jesus alle Gelegenheiten verstreichen liess, seine Macht zu zeigen. Dass Jesus vom Reich Gottes sprach, das überhörten die Jünger. Sie interpretierten Jesus sehr menschlich: «Wir wollen die Grössten sein von allen.»
Eines Tages kam Judas wohl der Gedanke, man müsste Jesus in eine Situation bringen, wo er gar nicht mehr anders konnte, als seine göttliche Macht zu offenbaren. Und die würde er dann auch zeigen. Und Jesus würde sich ihm zuwenden und sagen: «Das hast du aber gut eingefädelt, Judas.» So vereinbarte Judas mit Vertretern des Hohen Rates: «Wenn das Greiferkommando kommt, um Jesus des Nachts am Ölberg festzunehmen, werde ich ihn euch zu erkennen geben.» Er dachte doch gar nicht daran, Jesus zu verraten.

Warum offenbart sich Jesus nicht?
Judas identifizierte seinen Meister vielmehr. Die Nächte im Frühjahr waren kalt und die Jünger trugen wahrscheinlich Tücher um den Kopf. Judas gab seinem Meister den Kuss der Identifikation. Doch als sich dieser einfach gefangen nehmen liess, erschrak Judas zutiefst. Hatte Jesus nicht unglaubliche Wunder getan? Warum denn zeigte er jetzt nicht seine Macht?
Judas war völlig allein. Alle anderen waren rasch davongelaufen. In seiner Verzweiflung lief auch Judas davon, er lief hinein ins Dunkel der Nacht, ins Dunkel des Todes, sich selbst verdammend. Niemand war da, der ihn tröstete. Und so erhängte er sich. Seitdem wird Judas als der grösste aller Sünder betrachtet, denn er hat Jesus dem Tod ausgeliefert.
Aber das ist falsch. Die Ursache für den Tod Jesu lag allein bei Jesus selbst. Denn durch seine Taten und Worte gegen die Thora, gegen das Gesetz der Juden, hatte er sich selbst dem Tod ausgeliefert. Die christliche Tradition und die dazugehörige Theologie haben Judas direkt in die Hölle geschickt, zusammen mit anderen grossen Verbrechern. Aber ist das der Wille Jesu? Und: Wer ist Jesus überhaupt? Jesus galt den Menschen seiner Zeit als Nachfahre aus dem Hause des Königs David. Und aus dem Hause Davids sollte der Messias kommen. An einer wichtigen Stelle im Alten Testament sagt Gott, dass er seine Herde führen werde wie ein guter Hirte (Ez 34,12). Und nun sagt Jesus: «Ich bin der gute Hirte.» (Joh 10,11) Und stellt sich damit direkt an die Stelle, die für Gott reserviert war. Wie sehr er tatsächlich der gute Hirte ist, zeigt Jesus in den Parabeln von den drei Verlorenen in Lukas 15. Da trägt er das verlorene Schaf auf seinen Schultern nach Hause. Er hat sich selbst dafür in Lebensgefahr gebracht. Er bringt es nach Hause, ohne jede Aufforderung zu Busse, zu Reue oder zu Umkehr. Kein Wort von Verdammung, kein Wort von Hölle - nur Rettung. Jesus will retten und mit dem Verlorenen feiern, denn das ist sein Name: Jeschua – das heisst «Gott rettet».

Hoffnung für jeden Judas?
Und was, wenn ein Mensch gar nicht gerettet werden will? Was tut Gott dann? Bedenken wir, dass nicht nur der Mensch frei ist, sondern auch Gott. Und die Freiheit Gottes ist unendlich Mal grösser und vielfältiger als unsere menschliche Freiheit. Wenn einer total tot ist und nicht gerettet werden will, dann wird Gott sich niederknien und auf der Erde suchen, mit Händen tasten, bis er den Verlorenen findet, und er wird ihn nach Hause tragen, damit er mit ihm feiern kann. Daraus folgt für uns: Je verlorener ein Mensch ist, desto grösser wird die Aktivität Gottes, ihn zu suchen, bis er ihn findet, auch den Letzten aller Sünder. «Holt alle herein», sagte Jesus zu den Vertretern des Hohen Rates. «Ich will dem Letzten so viel geben wie dem Ersten.» (Mt 20,14) Auch Judas ist gerettet, sein Grab ist offen und leer.
Werfen wir nun nochmals einen Blick auf das Kapitell von Vézelay. Das dritte Gesicht, das Gesicht des toten Judas, zeigt ein sanftes Lächeln. Gegen alle kirchlichen Einstellungen von damals erscheint Judas hier durch die Darstellung des Bildhauers von Vézelay als ein Geretteter. Der gute Hirte trägt seinen Freund nach Hause. Und auch der gute Hirte lächelt, es ist allerdings ein sehr merkwürdiges, schräges Lächeln. Und das ist das Allerunwahrscheinlichste: Das lächelnde Profil des Judas passt haargenau in die wie fehlend erscheinende Gesichtshälfte von Jesus, dem guten Hirten. Nur zusammen mit Judas, nur zusammen mit dem letzten aller Sünder kann der ewige Gott lachen! Es gibt daher Hoffnung für Judas, für jeden Judas, weil Gott retten will. Was der unbekannte Steinmetz für alle Zeiten in Stein gemeisselt hat, ist nichts weniger als die Auferweckung des Judas. Zum Schluss wage ich deshalb ein Gebet: «Oh, heiliger Judas, sei du der Patron aller Verlorenen, der Patron all jener ohne Hoffnung und ohne Zukunft, all derer, die sich selbst verdammen und verurteilen. Sei an ihrer Seite, ihr Freund, sag ihnen, was alles möglich ist für die unendliche Liebe Gottes, eine Liebe, die jeden Menschen umformen und wandeln wird, bis wir alle, alle unseren Platz am himmlischen Festmahl eingenommen haben werden für alle Ewigkeit. Amen.»

Christoph Wrembek, 14.03.2024


Theatersolo «Judas»
Judas ist auch Gegenstand eines Solotheaterstücks, das am Karfreitag in der Kartause Ittingen aufgeführt wird. Dabei bricht der meistgehasste Mann der Christenheit in einer emphatischen Rede sein Schweigen. Keine Selbstverklärung, aber auch kein Bedauern. Judas berichtet von seinem Werdegang und davon, wie nahe Schuld und Unschuld beieinanderliegen. Der Schauspieler Christian Klischat brilliert in dem Stück der niederländischen Autorin Lot Vekemans.
Fr, 29.3., 20 Uhr
Kartause Ittingen
 

Die traditionelle Sicht – der verzweifelte Judas, ein Ausgestossener
Quelle: Azoor Photo, Alamy Stock Foto
Die traditionelle Sicht – der verzweifelte Judas, ein Ausgestossener

 

 

 

Das Kapitell von Vézelay zeigt Christus, den guten Hirten. Er trägt den toten Judas nach Hause.
Quelle: zVg
Das Kapitell von Vézelay zeigt Christus, den guten Hirten. Er trägt den toten Judas nach Hause.

 

 

 

Jubelnde – oder fassungslose – Zuschauer? Der barmherzige Vater stürzt seinem Sohn entgegen, um ihn aufzunehmen, gemalt von James Tissot, 1863.
Quelle: Peter Horree, Alamy Stock Foto
Jubelnde – oder fassungslose – Zuschauer? Der barmherzige Vater stürzt seinem Sohn entgegen, um ihn aufzunehmen, gemalt von James Tissot, 1863.

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