Die Suche in den Vatikan-Archiven hat begonnen

Am 2. März öffnete der Vatikan seine Archive zu Pius XII. (forumKirche 4/2020), um neue Erkenntnisse zu dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Unter den ersten Historikern, die das neu zugängliche Material sichten konnten, gehörte der renommierte deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf – bis das Coronavirus seine Suche unfreiwillig beendete. Im Interview berichtet er, wie weit er mit seinem Team bis dato kam und wie man sich die umfangreiche Recherche in den Archiven vorstellen muss.

Sie sind mit einem Team von 6 Leuten nach Rom gereist. Was sind Ihre dringlichsten Fragen?

Wir sind natürlich auf verschiedenste Themen vorbereitet, die im langen Pontifikat Pius’ XII. relevant waren: sein Verhalten im Zweiten Weltkrieg, die Rattenlinie [Fluchtroute der Nazis, Anm. d. Red.] , sein Antikommunismus, die enge Westbindung des Heiligen Stuhls nach 1945 oder die Nichtanerkennung des Staates Israel 1948. Das für die Öffentlichkeit wichtigste Thema ist aber ohne Zweifel «Pius XII. und der Holocaust». Für Sondierungen zu diesem Thema haben wir von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung eine erste Anschubfinanzierung erhalten.

Was haben Sie in dieser Woche schon herausfinden können? Welche Spuren verfolgen Sie?

Wir beginnen zu verstehen, wie Entscheidungen im Vatikan unter Pius XII. getroffen wurden und wie man die Akten abgelegt hat. Zum Thema Shoah und Hilfeleistung des Heiligen Stuhls für Verfolgte haben wir bereits interessante Funde gemacht. Das sind aber natürlich nur erste Mosaiksteine, hier ist noch viel Arbeit nötig. Um die Effizienz zu steigern, hat sich unser Team aufgeteilt, damit wir neben dem Apostolischen Archiv [bis Oktober 2019 Vatikanisches Geheimarchiv, Anm. d. Red.] auch im Archiv des Staatssekretariats und der Glaubenskongregation Bestände sichten können. Wir hatten vor, in den nächsten Wochen auch in den anderen neu zugänglichen Archiven auf Schatzsuche zu gehen. Nun hat uns aber das Coronavirus einen Strich durch die Rechnung gemacht: Alle Archive sind vorerst geschlossen und es ist unklar, wann sie wieder geöffnet werden.

Denken Sie, dass Sie auf alle relevanten Fragen Antworten finden werden, vielleicht auch Antworten, die Sie nicht unbedingt erwarten?

Ich hoffe sehr, dass wir auf viele Fragen Antworten finden, auf andere vielleicht auch nicht. Darüber hinaus werden sich aus den neuen Quellen auch ganz neue Fragen ergeben, die wir heute noch gar nicht kennen. Ein Beispiel: Wir wissen aus unserer Edition seiner rund 6000 Nuntiaturberichte (www.pacelli-edition.de), dass Eugenio Pacelli seine Berichte, bevor er sie nach Rom abschickte, oft mehrfach korrigiert und dabei die ersten Entwürfe diplomatisch weichgespült hat. Warum sollte er seine Praxis als Papst geändert haben? Dann könnte es zahlreiche eindeutigere Entwürfe zu seinen verklausulierten Reden und Ansprachen geben, vielleicht auch zur berühmten Weihnachtsansprache von 1942, in der er zum einzigen Mal öffentlich zum Holocaust Stellung nahm.

Nach welcher Art von Dokumenten suchen Sie genau?

Das ist ganz unterschiedlich und hängt vom jeweiligen Thema ab. Berichte, Briefe, interne Gutachten, Vorlagen für Dokumente des Papstes, Aufzeichnungen von Audienzen, Fotos, Umschläge mit Notizen von Besprechungen der Mitarbeiter mit Pius XII., wer was wann zu veranlassen hatte – alles ist wichtig, man muss es nur zu lesen, sprich einordnen zu wissen.

Wie gehen Sie bei der Suche vor und worin liegt hier die Herausforderung?

Die grösste Herausforderung ist die schiere Menge von Dokumenten. 200'000 Schachteln allein im Vatikanischen Apostolischen Archiv, mit bis zu 1'000 Blatt. Oder im Archiv der Glaubenskongregation über 500 Fälle von Buchzensur, die es aufzuarbeiten gilt. Ohne genaue Kenntnis des Forschungsstandes und präzise Fragen an jeden einzelnen Bestand wäre man verloren.

Wie muss man sich die Nachforschung in den Archiven genau vorstellen?

Das hängt stark vom jeweiligen Archiv ab. Im Apostolischen Archiv geht es zum Beispiel so, dass Sie sich in der Sala degli Indici in Tausenden von Inventaren, also der meist summarischen Übersichten der Bestände, die archivalischen Einheiten heraussuchen, die interessant erscheinen. Dann bestellen Sie am PC die Akte, die Sie haben möchten und ein Mitarbeiter sucht diese heraus und händigt Sie ihnen am sogenannten Banco aus. Diese Akte arbeitet man dann durch und gibt sie danach wieder zurück, erst dann bekommt man eine neue. Nehmen wir einmal an, Sie interessieren sich für das Thema «Schweiz während des Zweiten Weltkriegs». Ein erster Zugang ist das Archiv der Nuntiatur Bern, das zusammen mit anderen siebzig Archiven päpstlicher Vertretungen auf der ganzen Welt ebenfalls im Vatikanischen Archiv liegt. Hier gibt es Schachteln über die einzelnen Schweizer Diözesen, über das Verhältnis von Staat und Kirche, aber eben auch über das Thema Verfolgung der Juden. Wenn man dieses Material gesichtet hat, müsste man im Archiv des Staatssekretariats weiterverfolgen, was der Schweizer Nuntius nach Rom gemeldet hat und was nicht. Und was mit seinen Informationen im Vatikan geschah und was nicht. Und vor allem: Was bekam der Papst davon mit? Wir haben zum Beispiel in den Akten der Schweizer Nuntiatur Fotos von nackten und ausgemergelten Juden gefunden. Hier wäre jetzt zu prüfen, ob diese schrecklichen Bilder dem Papst vorgelegt wurden und daraufhin eine Reaktion erfolgt ist. Bei der Recherche ist einfach die Zusammenschau aller Informationen wichtig!

Wie viele Historiker sind vor Ort und wie strukturiert sich die Nachfrage und der Tagesablauf?

In der letzten Woche war es sehr ruhig, weil die Kolleginnen und Kollegen aus den USA, Israel, Frankreich und zum Teil auch aus Italien wegen Corona nicht kommen konnten. Normalerweise sind es zwischen 50 und 60 Wissenschaftler, die im Archiv sind. Man kennt sich und trifft sich gerne in der Bar beim Espresso. Der Tagesablauf unseres Teams sieht eine Mittagspause um 13 Uhr vor, denn sonst kann man nicht mehr konzentriert arbeiten. Dabei tauschen wir natürlich schon erste Ergebnisse aus.

Wie viel Zeit haben Sie für das Einsehen der Akten?

Das hängt ganz von der Dicke der Akte ab. Im Apostolischen Archiv haben Sie pro Tag fünf Bestellungen, die sollten Sie auch nutzen. Aber ich habe auch schon mal mehrere Tage an einer Akte gesessen.

Wie lange wird es dauern, bis sämtliche Akten gesichtet sind und konkrete Schlüsse daraus gezogen werden können?

Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Allerdings zeichnen sich manchmal überraschend schnell Antworten ab!

Wie geht man als Historiker mit dem Zeitdruck um, dem man durch den dringlichen Wunsch der Öffentlichkeit nach Wahrheiten ausgesetzt ist?

Tiefenentspannt. Man darf sich nicht unter Druck setzen lassen, weshalb die ernsthaften Forscher auch intensiv zusammenarbeiten und sich natürlich miteinander über ihre Ergebnisse austauschen. Gerade bei diesem existentiellen Thema wäre es fatal, Schlagzeilen zu produzieren, die sich nicht halten lassen.

Kann eine solche Aufarbeitung überhaupt objektiv geschehen angesichts der Tatsache, dass einige Kirchenhistoriker Papst Pius XII. gerne seliggesprochen sehen würden?

Natürlich haben wir aufgrund des Forschungsstandes ein Vorverständnis. Aber als Historiker müssen wir dieses immer wieder von den Quellen infrage stellen lassen. Eine naturwissenschaftliche Objektivität ist in der Geisteswissenschaft weder möglich noch angestrebt. Historiker rekonstruieren die Geschichte immer, aber sie tun es besser, je besser ihre Quellen sind. Für Pius XII. steht jetzt ein einmaliger, bislang nicht ausgewerteter Bestand zur Verfügung. Aber auch wenn alle Quellen gelesen sind, werden die Diskussionen nicht beendet sein.

Interview: Sarah Stutte (17.3.20)

Prof. Dr. Hubert Wolf (60) lehrt Kirchengeschichte in Münster und wurde 2003 mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet. Mehrere Bücher des Theologen standen auf den Bestseller-Listen. Er vertritt die Ansicht, das Seligsprechungsverfahren von Papst Pius XII. so lange auszusetzen, bis alle Quellen ausgewertet sind.

dr. wolf
Prof. Dr. Hubert Wolf (ganz links im Bild) und sein Team vor dem Vatikanischen Apostolischen Archiv. (v.l.n.r. Dr. Barbara Schüler, Elisabeth-Marie Richter, Dr. Sascha Hinkel, Michael Pfister und Matthias Daufratshofer. Dr. Judith Schepers fehlt auf dem Bild)
Bild: zVg
dr. wolf
Regale mit historischen Akten im Vatikanischen Apostolischen Archiv.
​​​​Bild: © KNA GmbH, 2020

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