Missbrauch und Gewalt in St. Iddazell

Im Kino läuft zurzeit der Dokumentarfilm «Hexenkinder», der die Geschichte von zwangsversorgten Kindern erzählt, die in christlich geführten Heimen gequält wurden. Ein solches war auch das dem Kloster Fischingen angegliederte Kinderheim St. Iddazell, das dort bis 1976 existierte. 2013 untersuchte ein Historiker-Team die dortigen Vorfälle und erstellte einen erschreckenden Bericht, auf dessen Grundlage auch ein Buch erschien. Massgeblich an der Untersuchung beteiligt waren damals die beiden Historiker Sabine Jenzer und Thomas Meier.


Was hat Sie vor sieben Jahren dazu veranlasst, einen Bericht über die Vorkommnisse in St. Iddazell zu erarbeiten?

Der Verein Kloster Fischingen, der seinerzeit für das Kinderheim St. Iddazell zuständig war, beauftragte die Beratungsstelle für Landesgeschichte (BLG) mit der Aufarbeitung der Geschichte dieses Heims. Das Team bestand aus vier Historiker*innen, neben uns noch Martina Akermann und Janine Vollenweider. Wir alle hatten bereits zuvor die Geschichte der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in anderen Kontexten untersucht.

Das Kinderheim existierte von 1879 bis 1976 in Fischingen, in diesen 97 Jahren lebten ca. 6'500 Kinder dort. Warum geschah die Aufarbeitung erst so spät?

Ausschlaggebend für die Aufarbeitung waren sich in den Medien häufende Berichte von ehemaligen Heimkindern von St. Iddazell über Missbräuche durch das Heimpersonal, vor allem körperliche und sexualisierte Gewalt, sowie eine gerichtliche Klage gegen einen noch lebenden Pater wegen «Körperverletzung und sexuellen Missbrauchs mit Kindern».

Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?

Es sollte von Beginn weg eine breite wissenschaftliche Untersuchung geben, um das «Kinderheim St. Iddazell» möglichst in seiner ganzen Komplexität in den Blick zu nehmen. Wir arbeiteten ein Jahr lang an dieser Studie. Dabei werteten wir rund 160 Zöglings- und Schülerdossiers, weiteres Archivmaterial zum Kinderheim St. Iddazell sowie Akten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen aus. Daneben bildeten 26 Interviews mit ehemaligen Heimkindern einen wichtigen Schwerpunkt.

Wie haben Sie die Gespräche mit den Betroffenen erlebt?

Sie sind uns in bleibender Erinnerung geblieben, weil sie das Ausmass der Betroffenheit und gewisse Missstände eindrücklich zeigen. Zu nennen sind beispielsweise Schilderungen zum herrschenden Klima von emotionaler Kälte und Lieblosigkeit, von Herabsetzung und Blossstellung, oder von Gewalthandlungen, die weit über das damals gesellschaftlich akzeptierte Mass hinaus - gingen und als exzessiv zu bezeichnen sind.

Wie äusserte sich die Gewalt und der Missbrauch in St. Iddazell?

Neben sexuellem Missbrauch und physischer Gewalt bis hin zu Gewaltexzessen und sadistischen Auswüchsen kam es auch zu psychischen Misshandlungen, die sich beispielsweise in Vernachlässigung, fehlender Zuneigung, Abwertung, Nötigung, Demütigung oder Ablehnung durch Erziehende manifestierten. Misshandlungen körperlicher und seelischer Art kamen über die ganze Zeit von hundert Jahren hinweg vor. Gewalt wurde von Direktoren und Angestellten, von Geistlichen und Laien, von Männern und Frauen verübt. Nicht alle aber waren gewalttätig, es gab auch Personal, das sich von Gewalt distanzierte.

Welche Faktoren haben die Übergriffe begünstigt?

Die Ordensschwestern und -brüder waren teilweise überfordert, weil sie für grosse Gruppen von bis zu 50 unterschiedlichsten Kindern zuständig waren, unter ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Diese Institutionen zogen aber auch Personen mit sadistischen oder pädosexuellen Neigungen an und wurden von aussen nicht genügend beaufsichtigt und kontrolliert. Es gab Vertuschungstaktiken vom Heim und den beteiligten Ordensgemeinschaften, nicht zuletzt um die Reputation der Anstalt, des eigenen Ordens und der Kirche nicht zu gefährden, gekoppelt mit dem Gehorsamsgelübde und der strikten Ein- und Unterordnung in der Ordens- und Kirchenhierarchie.

Herrschte damals die Vorstellung der reinigenden Wirkung auf die Seele durch Bestrafung?

Im damaligen Erziehungsverständnis galt körperliche Züchtigung und das Brechen des kindlichen Willens als legitimes und notwendiges Mittel, um ein Kind zu einem angepassten, arbeitsamen, kirchentreuen und rechtschaffenen Menschen zu machen, der sich willig in die enge gesellschaftliche Ordnung einfügt. In katholischen Erziehungsinstitutionen ist zudem teils bis in die 1960erund 1970er-Jahre zu beobachten, dass das dadurch entstehende Leid nicht zuletzt wenig Beachtung fand oder in Kauf genommen wurde, weil ein starker Fokus auf ein jenseitsgerichtetes Seelenheil gesetzt wurde.

Interview: Sarah Stutte. forumKirche, 20.10.20
 

Eine Luftaufnahme des Klosters Fischingen von 1934
Quelle: © Walter Mittelholzer, ETH-Bibliothek/WikimediaCommons
Eine Luftaufnahme des Klosters Fischingen von 1934, zu dieser Zeit war das Kinderheim St. Iddazell noch in den Klosterräumlichkeiten beheimatet.

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