Guérin, ein sterbenskranker Mann, krümmt sich vor Schmerzen. Er droht am eigenen Leib zu verbrennen. Höllenfeuer nennt der Volksmund die Krankheit. Das Gewebe an Armen und Beinen stirbt ab. Die Blutvergiftung ist in der Regel tödlich. 

Seit dem frühen Mittelalter ist die Krankheit bekannt. Sie galt als rätselhaft und unausrottbar. Letzte Hoffnung blieb für viele Menschen damals die Fürsprache eines starken Heiligen. Sie pilgerten nach St. Didier de la Motte in Südfrankreich, wo die Gebeine von Antonius, dem Eremiten aus der ägyptischen Wüste, aufbewahrt wurden. Am Grab von Antonius legte auch Gaston, der Vater von Guérin, ein Gelübde ab: Sollte sein Sohn vom Höllenfeuer genesen, würden beide ihr Leben und ihr ganzes Vermögen in den Pflegedienst von Opfern des Höllenfeuers stellen. So entstanden ein Hospiz und später der Orden der Antoniter. Sie kümmerten sich um die Kranken, die am Antoniusfeuer – wie die Krankheit inzwischen genannt wurde – verbrannten. 

Die Kreuzigung nach Grünewald
Innert kürzester Zeit entstanden in Mitteleuropa 369 Ordensniederlassungen, die erste deutsche 1314 in Isenheim, im Elsass. Gut 200 Jahre später gab der Antoniusorden für das dortige Hospiz einen Flügelaltar mit neun grossformatigen Tafeln in Auftrag. Der Maler ist unter dem Namen Matthias Grünewald in der Kunstgeschichte bekannt. Die Gemälde sind heute im Unterlinden- Museum in Colmar ausgestellt. In der zentralen Kreuzigungsszene konfrontiert uns Grünewald mit einem gequälten Christus am Kreuz. Der ausgemergelte Leib ist geschunden, die Hände sind krampfhaft gespreizt, die Füsse verbogen, aus den Wunden fliesst Blut. Christi Haupt ist nach vorne gesunken, der letzte Atem ausgehaucht. Die trostlose Landschaft liegt in gespenstischem Dunkel. Maria sinkt in Ohnmacht, wird aber von Johannes, dem Lieblingsjünger ihres Sohnes, in seinem weiten rechten Arm gehalten. In ihrer Verzweiflung fällt Maria Magdalena auf die Knie und hebt flehend die Hände. Auf der gegenüberliegenden Seite zeigt Johannes der Täufer auf den Schmerzensmann am Kreuz. 

Damals und heute 
Was geht dieses Bild spätmittelalterlicher Frömmigkeit moderne Betrachter in der Corona-Krise an? Verschwörungstheorien und weltanschauliche Rechthaberei gibt es auch heute immer noch genug. So wird der Corona-Virus einfältig gedeutet als Strafe für sündigen Kleinglauben oder gierigen Konsumismus. Und auch einschlägige Bilder der Rettung sind schnell entworfen. Ihre Unbelehrbarkeit berührt peinlich, heute wie damals. Für das Antoniusfeuer, an dem in Mitteleuropa über 200 000 Menschen gestorben sein dürften, gibt es inzwischen eine pharmakologische Erklärung: Ein französischer Arzt entdeckte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Verursacher einen giftigen Pilz im Roggen: das Mutterkorn (clavideps purpurea). Durch Hygiene und bessere Aussortierungsmethoden konnte die Krankheit ausgerottet werden. Die Wirkstoffe im Mutterkorn werden in kleinen Dosierungen heute eingesetzt als Arznei, zum Beispiel gegen Migräne, bei Durchblutungsstörungen oder Wehenschwäche. 

Verbundenheit mit den Kranken 
Jenseits des kunstgeschichtlichen Prestiges, was bleibt von Grünewalds Kreuzigung? Was berührt? Grünewald malt die Trance einer existenziellen Not, die Kreuzigung als Fiebertraum der höllischen Krankheit. Am Leib des Gekreuzigten zeigen sich die Schwären des Antoniusfeuers. An seinen Symptomen verzweifelt und stirbt Grünewalds Heiland. Der Isenheimer Altar zeigt nicht einen souveränen Christus, der alle Krankheiten fernhält und alle Probleme löst. Grünewald stellt den Patienten mit dem Antoniusfeuer einen Gekreuzigten vor, der ihre Schmerzen kennt. Noch in seiner Ohnmacht zeigt er ihnen sein Gesicht. In dieser Verbundenheit können sich die Betrachtenden in ihrer existentiellen Not gesehen und ernstgenommen fühlen. Bis sie die Kraft finden, einen nächsten Schritt zurück ins Leben zu wagen. Als Spitalseelsorger kenne ich Situationen, in denen ein Patient in seiner Not nicht getröstet werden will, in denen Rat Verrat und Lösungsorientierung Manipulation bedeuten. Falsche Tröstungen verletzen: «Ist nicht so schlimm», «die Schmerzen bilden Sie sich ein, wir können nichts finden», «Sie haben noch Glück, es könnte noch viel schlimmer sein». 

Matthias Loretan
 

Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars
Die Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars in Colmar (Matthias Grünewald, 1512–1516).

Bild: The Yorck Project (2002)/Wikimedia Commons

 

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