Die Aktivistin Anni Lanz im Gespräch

Seit Jahrzehnten setzt sich die Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz für Flüchtlinge ein. Im letzten Jahr wurde sie wegen Schlepperei verurteilt, als sie einen Asylsuchenden ohne Papiere von Italien aus über die Grenze ins Wallis bringen wollte. Warum sie sich nicht schuldig fühlt und inwiefern die Schweiz in ihrer sozialen Verantwortung steht, erklärt die 73-Jährige im Interview.

Im Februar 2018 haben Sie versucht, einen obdachlosen und kranken afghanischen Mann von Italien aus illegal in die Schweiz zu holen. Wie kam es überhaupt dazu?

Im Rahmen des Solinetz Basel besuche ich Häftlinge im Ausschaffungsgefängnis. Dort habe ich den Mann kennengelernt, der sich in einem ganz schlechten Zustand befand. Ich konnte mich nicht mit ihm verständigen, deshalb gab er mir die Nummer seines Schwagers. Von diesem erfuhr ich, dass der Mann, aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse in Afghanistan, psychisch krank und selbstmordgefährdet war. Sein Vater, seine Frau und sein Kind waren in seinem Heimatland ermordet worden. Vor der Haft lebte er, wenn er nicht im Spital war, mehrheitlich bei seiner Schwester in der Region Basel. Sie gab ihm Halt. Als ich das nächste Mal das Gefängnis besuchte, war er schon nach Italien ausgeschafft worden. Das erstaunte mich, denn gegen die Ablehnung seines Wiedererwägungsgesuchs war zu diesem Zeitpunkt noch eine Einsprache hängig.

Warum sind Sie auf eigene Faust zu ihm gefahren?

Sein Schwager rief mich an und erzählte mir, dass er im Mailänder Flüchtlingszentrum abgewiesen worden sei und nun seit mehreren Nächten am Bahnhof von Domodossola im Freien übernachte. In diesem Februar herrschten Minusgrade. Er hatte weder warme Kleidung, noch seine Psychopharmaka, weil sein Gepäck auf der Reise verloren gegangen war. Ich fragte zuvor verschiedene Bekannte und Organisationen vor Ort um Hilfe an. Doch niemand hatte Zeit. Also habe ich mich am nächsten Tag selbst mit Kleidern, Essen und Geld in den Zug gesetzt. Sein Schwager fuhr gleich - zeitig mit dem Auto nach Domodossola.

Mit diesem Auto wollten Sie den Flüchtling zurück in die Schweiz holen. Sie wurden aber beim Grenzübertritt in Gondo erwischt und später im Wallis gerichtlich verurteilt. Hätten Sie rückblickend anders gehandelt?

Nein. Der Mann war unterkühlt und es ging ihm schlecht, weil er seine Medikamente nicht nehmen konnte. Der Walliser Richter meinte zwar, ich hätte ihm auf legale Weise helfen können, doch ich wusste nicht wie. Ohne Papiere hätte ich ihn in keinem Hotel und bei keiner Privatperson unterbringen können, in Italien macht man sich damit strafbar. Ohne Arztzeugnisse hätte ihn auch kein Spital ohne Weiteres aufgenommen. Eine psychische Erkrankung sieht man jemandem nicht direkt an. Die Ärzte hätten mich wieder weggeschickt und mir gesagt, dass sie keine Notschlafstelle sind. Einen Menschen auszuschaffen, der sich in einer solch hilflosen Situation befindet, ist meiner Meinung nach nicht rechtens. Vor allem dann nicht, wenn das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Doch darüber hat der Richter nicht geurteilt, nur darüber, ob ich gegen das Gesetz verstossen habe.

Die Schweiz hatte also eine Mitverantwortung in diesem Fall?

Ja. Die Asylbehörde müsste zur Rechenschaft gezogen werden. Es kommt immer wieder vor, dass sie vulnerable Menschen nach dem Dublin-Abkommen abschiebt (Völkerrechtsvertrag, der bestimmt, welches Land für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, Anm. d. Red.). Dabei könnte sie in solchen Fällen selber ins Asylverfahren eintreten und dieses in der Schweiz durchführen, aber das macht sie viel zu selten. Italien und die EU-Aussenstaaten müssen mehr Flüchtlinge betreuen, während die reiche Schweiz damit ihre Asylzahlen tief hält. Das ist unsolidarisch. Die Schweiz beteiligt sich auch nicht an der Aufnahme der Flüchtlinge, die auf dem Meer gerettet werden.

Wie lange engagieren Sie sich jetzt schon für die Rechte von Flüchtlingen?

Fast 35 Jahre lang. Das entwickelte sich parallel zu meinem Engagement gegen die Frauendiskriminierung, da Mitte der 80er-Jahre die Asylbewegung ebenfalls Aufwind bekam. Und es gehört auch zusammen. Lange Zeit hat es die Behörden gar nicht interessiert, dass Frauen andere Fluchtgründe haben könnten als Männer. Das war ein langer Kampf.

Sind Sie mit diesen Werten aufgewachsen?

Zum Teil. Ich stamme aus einem bürgerlichen Haus. Früher habe ich mich überhaupt nicht für Politik interessiert. Doch mein Vater erzählte viel über die Kriegsflüchtlinge im 2. Weltkrieg und sagte oft, so etwas dürfe nicht mehr passieren.

Was gibt Ihnen Ihr Engagement?

Einen Lebenssinn. Mir würde etwas fehlen, wenn ich es nicht mehr machen könnte.

Wenn Sie sich stets mit diesen Einzelschicksalen konfrontiert sehen, wie grenzen Sie sich ab?

In der Regel versuche ich, solche Fälle immer auf dem rechtlichen Weg zu lösen. Deshalb setze ich mich auch politisch für bessere Gesetze ein. Ich habe bei Hunderten von Migrantinnen und Migranten das Mandat übernommen. Das beschäftigt mich, aber es macht mich nicht fertig. Es beschäftigt mich so lange, bis ich eine Lösung gefunden habe. Diese Lösungen müssen zum Teil sehr kreativ sein, denn Migranten haben wenig Rechte, dafür aber umso mehr Pflichten.

Was können wir als Gesellschaft tun?

Uns bewusst machen, wie privilegiert wir sind. Wir beanspruchen viel zu viele Ressourcen für uns. Diese Ansprüche an unseren Konsum können wir nicht mehr länger so aufrechterhalten. Mit weniger werden wir aber nicht unglücklicher. Politiker haben oft Angst zu sagen, dass man auf nicht notwendige Sachen verzichten sollte. Dadurch kann man die Wählergunst verlieren. Doch ich muss nicht gewählt werden und mir ist es einerlei, ob ich beliebt bin oder nicht.

Wie geht es jetzt weiter mit Ihrem Verfahren, aber auch mit Ihrem Einsatz?

Ich warte auf das Urteil, das beim Bundesgericht in Lausanne hängig ist. Ich danke den vielen Menschen, die mich finanziell und moralisch unterstützt haben. Ich werde mich weiterhin für Flüchtlinge und Sans- Papiers einsetzen. Ich muss nicht gross in der Welt herumreisen. Ich kann auch hier Menschen aus der ganzen Welt treffen. Und man lernt sehr viel dabei. Ich mache damit weiter, so lange es geht.

Interview: Sarah Stutte (17.12.19)


Die in Basel geborene und aufgewachsene Soziologin Anni Lanz arbeitete lange Zeit als politische Sekretärin bei der Migrationspolitischen Organisation Solidarité sans frontières, deren Mitglied sie noch immer ist. In Basel baute sie das Solinetz mit auf, das sich für Abgewiesene engagiert. Für ihr humanitäres Engagement wurde Anni Lanz mehrfach ausgezeichnet. 



 

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Ohne ihr Engagement für Flüchtlinge würde der 73-jährigen Anni Lanz etwas fehlen.

Bild: ©Fabian Unternährer

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