Die Gregorianische Reform

Aus heutiger Sicht kann der Eindruck entstehen, dass sich die Kirche über Jahrhunderte hinweg kaum verändert hat. Doch gab es immer wieder Entwicklungen, die nach Ansicht von Kirchen-Verantwortlichen Reformen nötig machten. So auch im 11. Jahrhundert. Prof. Markus Ries ist überzeugt, dass die Reformen dieser Zeit, die vor allem mit Papst Gregor VII. in Verbindung gebracht werden, ohne die Mitwirkung der Kirchenbasis keinen Erfolg gehabt hätten.

Herr Prof. Ries, wie hat man sich die gesellschaftliche Ordnung im 11. Jahrhundert vorzustellen?

Lange war es üblich, vom «christlichen» Mittelalter zu sprechen, was natürlich eine idealisierende Projektion ist. Gleichwohl war die kirchliche Herrschaft der staatlichen ebenbürtig. Es gab eine zweipolige Situation. Sie wurde einerseits bestimmt durch die weltlichen Herrscher: Könige, Fürsten, Herzoge, Grafen usw. (Lehenspyramide). Auf der anderen Seite gab es die geistliche Herrschaft: Papst, Bischöfe, Priester. Diese beiden Seiten prägten die öffentliche Ordnung.

Wo stand die Kirche in dieser Zeit? Was regte sich in ihr?

In der Kirche nahm man damals deutlich Defizite wahr, ähnlich wie am Vorabend der Reformation. Es gab Aufbruchsbewegungen, die von den Klöstern wie auch von Laiengruppen ausgingen und das Ziel hatten, den Glauben wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Am bedeutendsten war eine Bewegung, die in Mailand und in weiteren norditalienischen Städten verankert war – die «Pataria». Sie bildete eine regelrechte Opposition «von unten». Die Reformkräfte kämpften gegen zwei Missstände. Zunächst ging es um die Einhaltung des Priesterzölibats. Immer wieder kam es vor, dass Geistliche verdeckt oder offen mit Frau und Familie zusammenlebten. Im Weiteren beklagte man das Phänomen der «Simonie»: Kirchenämter waren käuflich, manchmal erhielt der Meistbietende den Zuschlag. Im Ganzen ging es darum, die Religion ernsthaft und nicht nur oberflächlich zu praktizieren. Als Voraussetzung wurde die «libertas ecclesiae» (Freiheit der Kirche) eingefordert: Das geistliche Leben sollte nicht vom weltlichen Herrschaftskalkül bestimmt sein, vielmehr brauchte man dafür eine unabhängige kirchliche Struktur.

Welche Rolle spielte dabei die Kirchenleitung?

Das Papsttum war selbst stark in Mitleidenschaft gezogen. Zeitweise war es zum Spielball römischer Adelssippen verkommen, bei Papstwahlen konnten Geldzahlungen und Gewaltanwendung eine Rolle spielen. Auf der Synode von Sutri (1046) griff der deutsche König Heinrich III. ein und veranlasste die Absetzung des Papstes Gregor VI. Auf seine Initiative hin kamen seither keine Römer mehr in das Amt, sondern reformeifrige Kandidaten von der anderen Seite der Alpen, vorzugsweise solche, die dem erneuerten Mönchtum nahe standen. Das hat dazu geführt, dass die Päpste selber zu Trägern der Reform wurden. Gregor VII. (1073–1085) nahm dabei eine herausragende Rolle ein.

Was zeichnet die Gregorianische Reform aus?

Hildebrand, der spätere Papst Gregor VII., war mit der Reformbewegung verbunden, die von der Abtei Cluny ausging. Das grosse Kloster im Burgund war ein geistliches Zentrum mit herausragender Strahlkraft. Man bemühte sich, die Klöster aus der weltlichen Herrschaft zu befreien und daraus echte religiöse Institutionen zu machen, in denen Gebet und Gottesdienst im Zentrum stehen. Bis ins 11. Jahrhundert hinein haben die weltlichen Herrscher für sich das Recht beansprucht, Äbtissinnen, Äbte und Bischöfe in ihr Amt einzusetzen. Gregor VII. und seine Mitstreiter empfanden dies als Bevormundung und forderten im Sinne der «Freiheit der Kirche», dass die Besetzung dieser Ämter der geistlichen Seite und damit dem Papst zustehe. Diese gegensätzlichen Ansprüche führten zum Investiturstreit: Kaiser und Papst setzten sich gegenseitig ab. Papst Gregor VII. entschied den Kampf vorerst für sich: Der gebannte Kaiser musste Busse tun und den berühmten «Gang nach Canossa» antreten, um sich von der Kirchenstrafe lösen zu lassen.

Der Konflikt endete 1122 mit einem Kompromiss. Seither erhielten die Bischöfe die weltlichen Herrschaftsattribute von den Königen, die geistlichen aber vom Papst. Seit Bischöfe keine Landesherren mehr sind, erhalten sie ihre Amtsbefugnis in vollem Umfang vom Papst.

Wie erfolgreich waren die innerkirchlichen Reformbestrebungen?

Sie waren sehr erfolgreich, weil sie breit abgestützt waren, zum einen im Mönchtum, zum anderen in dem, was wir heute kirchliche Basis nennen würden. Es gab eine Laienaufbruchsbewegung, welche die Kirchenreform energisch voranbrachte. Es gab Fälle, in denen Aktivistinnen und Aktivisten Gottesdienste stürmten, weil sie mit dem Lebenswandel des zelebrierenden Priesters nicht einverstanden waren. Als unwürdig galt, wer im Konkubinat lebte oder wer sein Amt gekauft hatte.

In welcher Weise wirkte dieser Reformprozess nach?

Er war Auslöser für eine tief greifende Umgestaltung der Kirche insgesamt. Die Gregorianische Reform bewirkte, dass weltliche Herrschaft ihren sakralen Charakter verlor. Zuvor hatte die Königssalbung noch als Sakrament gegolten, ein Herrscher regierte direkt von Gottes Gnaden. Heute würde dies niemand mehr so sehen. Die Reform hat auch die innerkirchliche Position der Päpste gestärkt. Ursprünglich waren sie primär Bischöfe von Rom. Diese Stadt sah sich als «caput mundi», als Hauptstadt der ganzen Welt, und der Vorsteher ihrer Christengemeinde war der wichtigste aller Bischöfe. Seit der Gregorianischen Reform erhoben die Päpste einen deutlich weiter reichenden Anspruch: Sie sahen sich über Fürsten und Könige gestellt – und zugleich auch über alle anderen Bischöfe. Papst Innozenz III. (1198–1216) hat es auf eine Formel gebracht: «geringer als Gott, aber grösser als ein Mensch». In allen Bistümern können die Päpste seither direkt Einfluss nehmen. So gesehen hat die Geschichte des modernen päpstlichen Primates im 11. Jahrhundert begonnen.

Der Erfolg der Gregorianischen Reform machte das Mönchtum zur entscheidenden Kraft in der Kirche. Ihre Lebensform galt als vollkommen und wurde zum Ideal der geistlichen Existenz schlechthin. Auch die Seelsorger sollten nun ein Leben führen, das jenem der Mönche möglichst nahe kam. Seither galten für sie die täglichen Gebetszeiten der Klöster; die Verpflichtung zum Tragen der Tonsur und zum Einhalten des Zölibates wurde durchgesetzt.

Welche Erkenntnisse lassen sich aus den Bemühungen und Entwicklungen dieser Zeit ableiten?

Die Geschichte des 11. Jahrhunderts zeigt, welche Rolle die Gläubigen in kirchlichen Reformprozessen spielen können. Die Gregorianische Reform war erfolgreich, weil die innere Überzeugung in vielen Bereichen vorhanden war: bei den Mönchen, bei den Laiengruppen, bei Königen und Päpsten. Für sich allein hätten die einzelnen Gruppen es kaum geschafft. Die Geschichte zeigt auch, wie das Amt des Papstes über Jahrhunderte gewachsen ist. Die Entwicklung begann in der Zeit des Petrus, sie war damit aber längst nicht abgeschlossen. Innere Erneuerungsprozesse wie auch Machtkämpfe spielten dafür eine gewichtige Rolle.

Interview: Detlef Kissner (16.07.19) 

 

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Heute sind nur noch Reste der alten Klosteranlage von Cluny zu sehen. Von der Abtei gingen im Mittelalter wichtige Reformimpulse aus.

Bild: Hadonos/Wikimedia Commons

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