Eine Ukrainerin erzählt über ihr Leben in der Schweiz

Vor Ostern 2022 sprachen wir mit Menschen, die gerade vor dem Krieg in der Ukraine in die Schweiz geflohen waren, und berichteten ausführlich darüber (s. 08/2022, S. 3f). Doch wie geht es diesen Menschen heute? Wie bestreiten sie ihr Leben? Welche Perspektiven haben sie? Dies wollten wir von einer jungen Frau wissen, die wir damals interviewt hatten. 

Im März letzten Jahres war Yuliya Federova hochschwanger nach Sirnach gekommen. Heute sitzt ihr kleiner Sohn auf ihrem Schoss und beobachtet mit wachen Augen, was in seiner Umgebung passiert. Eliot hat eine genetische Erkrankung und musste nach seiner Geburt drei Wochen lang in der Kinderklinik Münsterlingen behandelt werden. «Jetzt bekommt er Medikamente. Es geht ihm gut», sagt Yuliya Federova. Auch sonst hat sich einiges verändert. Anfangs hatte die junge Frau zusammen mit ihrem Mann bei einer Gastfamilie gewohnt. Vor einem halben Jahr konnte das Sozialamt ihnen eine kleine Wohnung vermitteln - ebenfalls in Sirnach. Ihr Mann hat einen Job in einer ortsansässigen Lackfabrik gefunden. Dort arbeitet er vormittags. Nachmittags besucht er einen Deutschintensivkurs in Frauenfeld und abends macht er seine Hausaufgaben. Die beiden reden oft Deutsch miteinander. «Das haben wir schon in der Ukraine so gemacht», erzählt Federova, die Deutsch studiert hat. 

Sorge um die Nächsten
Was die junge Ukrainerin belastet, sind die düsteren Nachrichten aus ihrer Heimat. «Unseren Eltern geht es nicht immer gut. Es gibt Tage, da erleben sie fünfmal einen Bombenalarm. Das stresst sie, bereitet ihnen schlaflose Nächte.» Der Wohnort ihrer Familie und ihrer Freund*innen liegt südlich von Odessa am Schwarzen Meer. Weil es dort militärische Einrichtungen gibt, sind jederzeit Angriffe möglich. «Zu essen haben die Menschen dort genug, nur sind die Lebensmittel inzwischen sehr teuer geworden», sagt Yuliya Federova. Die Probleme mit dem Strom und der Heizung seien weitgehend behoben. Sie ist sehr froh, dass es mit der Verbindung in die Ukraine per Handy und Internet so gut klappt. 

Wechselbad der Gefühle
Das Leben hier in der Schweiz hat für Yuliya Federova zwei Seiten. Zum einen schätzt sie es, dass ihre Familie eine Wohnung und genügend zu essen hat, dass ihr Mann eine Arbeit hat und vor allem, dass ihr Sohn hier hervorragend medizinisch versorgt wird. Zum anderen belastet sie die Ungewissheit und die Sorge um nahestehende Menschen. In ihrer Schwangerschaft habe sie kaum Mitgefühl empfinden können. «Nur als ein Freund gestorben ist, habe ich weinen müssen.» Jetzt sei das anders. Am meisten erschüttert es sie, wenn Kindern etwas in diesem Krieg passiert. So hat sie von einem Mädchen aus ihrer Region erfahren, das bei einem Raketenangriff ein Bein verloren hat. «Das Mädchen, das sehr sportlich war, konnte nicht verstehen, was passiert ist», sagt die junge Mutter bedrückt. Traurig wird sie, wenn sie in Zeitungen negative Nachrichten über die Ukraine liest, die nicht der Wahrheit entsprechen: «Das tut mir sehr weh.» Bei allen Unwägbarkeiten versuchen sie und ihr Mann, jeden Tag für sich zu sehen, ganz im Hier und Jetzt zu leben.

Kerzen für Soldaten
Hilfreich sind für sie die Treffen im Café Grüezi, dem interkulturellen Begegnungsort in Sirnach. Dort versammeln sich jeden Donnerstagabend Geflüchtete aus der Ukraine und Einheimische, die sie unterstützen. Die Kinder spielen im Nebenzimmer. Für die Erwachsenen ist es eine Gelegenheit, Ukrainisch zu reden und sich über das auszutauschen, was sie bewegt. In dieser Runde wurden auch schon Kerzen gezogen. Das Wachs dafür stammte aus Kerzenresten der katholischen Kirchgemeinde. Die Kerzen wurden in die Ukraine geschickt und sollen dort den Soldaten Licht und Wärme spenden. 
Yuliya Federova hat gerade ihre Aufenthaltsbewilligung um ein Jahr verlängert. Doch sie hofft, dass der Krieg bald zu Ende ist und sie mit ihrer kleinen Familie nach Hause zurückkehren kann. «Dann braucht es dort viele, die alles wieder aufbauen.» Und schliesslich sollen die Grosseltern bald ihren kleinen Enkel sehen und in den Armen halten können. 

Detlef Kissner, forumKirche, 12.04.2023
 

Yuliya Federova mit ihrem zehnmonatigen Sohn Eliot
Quelle: Detlef Kissner
Yuliya Federova mit ihrem zehnmonatigen Sohn Eliot

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