Kampf ums Recht auf Gesundheit

Ab 29. März findet am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg die Anhörung der Klage der KlimaSeniorinnen Schweiz statt. Vorstandsmitglied Rita Schirmer-Braun, die heute in Schaffhausen wohnt, aber lange in Romanshorn gelebt hat, erzählt forumKirche, wie es dazu gekommen ist.

Worum geht es bei der Klage der KlimaSeniorinnen Schweiz?
Unser Anliegen ist es, dass der Bund seine Pflichten erfüllt, damit unsere Grundrechte auf Leben und Gesundheit gewahrt werden. Wir möchten, dass die Schweiz die Klimaziele einhält, zu denen sie sich 2018 mit der Ratifizierung des Pariser Abkommens verpflichtet hat. Deshalb sollen die Treibhausgase bis 2030 um mindestens 50% reduziert werden. Die Klage ist abgestützt auf die Bundesverfassung, auf weitere Schweizer Gesetze sowie auf die Europäische Menschenrechtskonvention. 

Weshalb fokussieren Sie auf Seniorinnen? 
Wissenschaftliche Studien belegen, dass ältere Frauen am meisten unter der Klimaerwärmung leiden. Die WHO hat aufgezeigt, dass Frauen schwer unter Herz-Kreislauf-Komplikationen leiden. Sie vertragen Hitze um 6 Grad weniger als Männer. Eine Studie von 2003 belegt, dass in Europa in jenem Hitzesommer 70'000 Menschen gestorben sind, vor allem Frauen. In der Schweiz starben damals 1'000 Menschen, davon waren 65% Frauen. Wir haben letztes Jahr unter unseren Mitgliedern eine Umfrage gemacht, 46 Frauen haben sich gemeldet und beschrieben, wie sie unter der Hitze leiden. So klagten sie über Kurzatmigkeit, Hautausschläge, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Bewusstlosigkeit. Die Konsequenzen davon: Die Frauen gehen nicht mehr nach draussen, die Fensterläden sind permanent geschlossen. Daraus folgen Einsamkeit, Niedergeschlagenheit, Depression, Zukunftsängste, dass dies nun jedes Jahr schlimmer wird. Natürlich betrifft diese Entwicklung alle, aber nur Direktbetroffene ab 65 Jahren können klagen.

Wieso liegt die Klage nun beim EGMR?
Wir haben die Klage am 25. November 2016 beim Bund eingereicht. Am 26. April 2017 beschloss das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, auf das Begehren nicht einzutreten. Wir gelangten durch alle Instanzen bis ans Bundesgericht und erhielten am 5. Mai 2020 einen ablehnenden Bescheid. Die Begründung lautete: Die Schwelle von deutlich unter 2 Grad sei heute noch nicht erreicht und deshalb könne niemand jetzt schon die Einhaltung eines solchen Zieles einfordern. Es bleibe noch genügend Zeit. Deshalb haben wir die Klage am 27. November 2020 beim EGMR eingereicht. Im April 2022 wurde sie der Grossen Kammer des EGMR übergeben. 

Was bedeutet die Anhörung am 29. März für Sie?
Wir haben das Gefühl, das sei im Eilzugstempo gegangen am EGMR. Für uns sind das drei Erfolge: Erstens, dass die Klage überhaupt angenommen worden ist, denn auf 95% der Schweizer Klagen wird gar nicht erst eingetreten. Dazu muss man wissen, dass Klagen zuerst durch eine Einzelperson geprüft werden. Viele fallen weg, weil sie beispielsweise Verfahrensfehler aufweisen. Zweitens, weil unsere Klage prioritär behandelt wird. Und drittens, weil sich die Grosse Kammer der Klage annimmt.

Wieso ist es ein Erfolg, wenn die Grosse Kammer die Anhörung durchführt?
Nur ganz wenige Fälle gelangen an die Grosse Kammer. Sie betreffen schwerwiegende Fragen zur Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Unsere Klage wirft grundsätzliche Fragen auf zu Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Erderwärmung. Darüber hat das EGMR noch nie entscheiden müssen.

Wie ist es zur Gründung des Vereins KlimaSeniorinnen Schweiz gekommen?
Greenpeace hat zwei Anwältinnen mit der Abklärung beauftragt, ob eine Klage in der Schweiz möglich ist, wie sie in den Niederlanden in erster Instanz Erfolg hatte. Dort klagten etwa 900 Zivilisten mit der Organisation Urgenda gegen den Staat und erreichten 25–40% Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2020. Ich erhielt von den Grünen in Bern eine Anfrage, ob ich mitmachen wolle bei einer Klage. So trafen wir uns im August 2016 zur Gründungsversammlung. Mittlerweile sind wir 2'038 Mitglieder, also Klägerinnen, und über 1'100 Unterstützer*innen. Zu Letzteren gehören auch Männer und junge Leute. Wir halten Vorträge über unser Anliegen – auch im Ausland, dort zusammen mit Greenpeace. Die Organisation unterstützt uns seit Beginn. Neben der Sammelklage des Vereins klagen auch vier Einzelklägerinnen. Eine davon ist verstorben, aber ihr Sohn kämpft weiter für sie.

Béatrice Eigenmann, forumKirche, 25.01.2023


Aufruf zum Mitkommen nach Strassburg
Die KlimaSeniorinnen Schweiz rufen die Frauen dazu auf, sie am 29. März an den EGMR zu begleiten. An diesem Tag findet die Anhörung ihrer Klage vor der Grossen Kammer statt.
Weitere Infos: www.klimaseniorinnen.ch
 

KlimaSeniorinnen Schweiz
Quelle: Greenpeace
Die KlimaSeniorinnen Schweiz mit Jurist*innen vor dem EGMR im November 2022; ganz rechts Rita Schirmer-Braun

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