Staunen und Ehrfurcht vor dem Universum

Gerhart Lehmann (82) setzt sich seit Jahren unermüdlich und ehrenamtlich fürs Planetarium Kreuzlingen ein. Ein Gespräch über den Grenzbereich von Wissen und Glaube beim Blick ins All. 

Das Planetarium in Kreuzlingen wurde 2002 eröffnet. Es wird von der Astronomischen Vereinigung Kreuzlingen betrieben. Wie sind Sie dazugestossen?
Ich bin als damaliger Stadtrat 1995 hineingerutscht, als es um die Subventionierung des Planetariums ging. Ich war Geschäfts- und Betriebsleiter – und bin hängen geblieben. Heute bin ich im Team, betreue die Technik und bin als Vorführer eingestiegen.

Was hat Sie daran gereizt, als Vorführer im Planetarium mitzuarbeiten?
Das Vorführen ist unsere Kernaufgabe. Die Leute kommen, um sich einen Film anzuschauen. Wir sagen Show dazu. Als Vorführer braucht es astronomisches Wissen, technische Fähigkeiten und die Fähigkeit, vor Leuten zu sprechen.

Was wird im Planetarium Kreuzlingen genau gezeigt?
Über die Filme, also die Shows, vermitteln wir in unterhaltsamer Weise astronomisches Wissen. Dies mithilfe einer sphärischen Abbildung, einer 360-Grad-Darstellung. Deshalb benötigen wir eine Kuppel. Wir bieten rund 20 verschiedene Programme an. Uns zeichnet aus, dass wir zu jeder Show einen Liveteil machen: Wir zeigen dabei den Leuten den aktuellen Himmel. Das müssen wir von Hand programmieren und gleichzeitig dazu Erläuterungen abgeben.

Sie arbeiten noch immer ehrenamtlich als Vorführer. Gibt es eine Besuchergruppe, die Ihnen besonders am Herzen liegt?
Mir sind alle Gruppen lieb, aber ich mag Schulklassen besonders. Kinder sind auf eine besondere Art interessiert. Sie haben einen Hang zum Dramaturgischen. Sie sind auch fragefreudiger. 

Genau, Kinder getrauen sich, auch ungewöhnliche Fragen zu stellen. Welche sind Ihnen da begegnet?
Ein Kind hat einmal gefragt, ob es auch ein weisses Loch gebe – analog zu einem schwarzen Loch. Die Frage, was ein schwarzes Loch ist, beschäftigt die Kinder sehr. Das wird immer gefragt, selbst wenn ich es zuvor nicht erwähnt habe. Ich sage dann jeweils, in einem schwarzen Loch wird man verzerrt, spaghettisiert. Mit diesem modellhaften Bild können Kinder etwas anfangen. Eine andere köstliche Kinderfrage lautet: <We luut hätt de Urknall tätscht?> Und dann das enttäuschte Gesicht, wenn ich sage: <Überhaupt nicht, es blieb ganz still.> 

Wie reagieren die Besucher*innen auf die Vorführungen im Planetarium?
Ausschliesslich positiv. Ich habe noch nie Kritik gehört, was sehr motivierend ist. 

Was steht jeweils im Vordergrund? Staunen und Ehrfurcht?
Die Leute haben in der Regel wenig astronomisches Wissen, wenn sie das Planetarium besuchen. Deshalb steht Staunen im Vordergrund. Ehrfurcht ist die nächste, also die höhere Stufe. Da hat jemand bereits nachgedacht.

Welche Gedanken und Gefühle löst bei Ihnen der Blick in den Sternenhimmel aus?
Bei mir beginnt es mit Ehrfurcht. Ich weiss viel aus der Naturwissenschaft. Aber ich weiss auch, dass ich nichts weiss. Ich zitiere das Wissen bloss. Ich kann nur darauf vertrauen, dass alle Wissenschaftler richtig liegen mit ihren Erkenntnissen. Ich komme schnell an die Grenze, wo ich nachdenken muss. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaft sind immens, aber plötzlich stosse ich auf die Frage nach dem Warum und nicht mehr nach dem Ist. Man kann es mit Chemie und Physik erklären, aber im Endeffekt geht es um die Entstehung von Leben. Ich erzähle über die Entstehung des Lebens nur mit einem Satz, dabei ist es eine ganze Bibliothek voller Wissen. Aber warum das so ist? Warum haben sich diese Eiweissmoleküle zusammengeschlossen? Warum ist eine RNA entstanden? Es gibt Theorien, wonach es hierfür ein kosmisches Programm gäbe. Aber: Was ist das für ein Programm? Wer hat es geschrieben?

Sie sagen es: Die Astronomie bringt die Menschen an die Grenzen ihrer Denkfähigkeit und damit an grenzwissenschaftliche Phänomene. 
Die Atheisten machen es sich da einfach. Sie lehnen sich stark an die Evolutionstheorie an. Sie argumentieren rein naturwissenschaftlich, aufgrund von Charles Darwins und Bertrand Russels Theorien. Es ist untrüglich, dass es so läuft. Aber: Weshalb läuft es so? Da komme ich schon ins Zweifeln, ob allein der Zufall die Antwort liefert. Deshalb habe ich ein 600-seitiges Werk des Atheistenpapstes Clinton Richard Dawkins gelesen. Es präsentiert einen beeindruckenden Wissensstand. Am Ende aber habe ich das Buch zugeklappt und gedacht: So, jetzt bin ich wieder etwas gläubiger geworden. 

Weshalb denn?
Für mich war es zu überladenes Beweismaterial. Naturwissenschaften scheitern beim Gottesbeweis. Lassen Sie mich etwas ausholen: Bis Ende des vorletzten Jahrhunderts sahen wir nur unsere Milchstrasse. Das Universum galt als unveränderlich. Das passte auch zu Einsteins Relativitätstheorie. Anfang der 1920er-Jahre fand Edwin Hubble – der amerikanische Astronom, nach dem das Weltraumteleskop benannt ist – heraus, dass es weitere Galaxien gibt. Mittlerweile geht man von 300 bis 400 Milliarden Galaxien aus. Hubble konnte auch nachweisen, dass sich das Weltall ausdehnt und dass sich Galaxien umso schneller entfernen, je weiter weg sie von uns sind. Der Theologe, katholische Priester und Astrophysiker Georges Lemaître stellte Anfang der 1930er-Jahre die Theorie auf, dass sich aus einem Nichts ein Etwas entwickelt haben musste – ganz plötzlich. Alle Forschungen deuten darauf hin, dass diese Theorie des Urknalls – die Entstehung von Materie, Raum und Zeit mit Beginn vor etwa 13,8 Milliarden Jahren – stimmt. Doch wenn etwas einen Anfang hat, hat es auch ein Ende. Aber wann hört es auf? Das sind Fragen, die bis jetzt (noch) nicht beantwortbar sind.

Werden Ihnen auch Fragen nach der Unendlichkeit und Ewigkeit gestellt? 
Das kommt immer wieder vor. Ich gestehe dann, dass wir uns das nicht vorstellen können. Unser Gehirn ist dafür nicht gemacht. Es gibt aber philosophische Antworten. So sagte mir kürzlich ein alter Freund, in der Ewigkeit gebe es keine Zeit. Es ist ein Raum ohne Zeit, man ist ohne Zeit. 
Die Raumzeit ist in der Relativitätstheorie und den Gravitationskräften begründet: Dort, wo keine Materie ist, ist keine Zeit. Ohne Materie gibt es also keine Zeit. Man kann zwar die Unendlichkeit darstellen als liegende Acht. Sie ist mathematisch fassbar, man kann qualitativ mit ihr rechnen. Mehr nicht. Zudem muss man sich vergegenwärtigen, dass alles, was wir am Himmel sehen, der Vergangenheit angehört. Der Stern, der unserem Planeten am nächsten liegt, zeigt uns ein Bild, das vier Jahre alt ist. Galaxien liefern Bilder, die mitunter Milliarden Jahre unterwegs waren. Gleichzeitig sollte man aber auch bedenken, dass das Licht im Vakuum 300'000 Kilometer in der Sekunde zurücklegt. Das bedeutet: In einer Sekunde ist ein Lichtstrahl 7,5 Mal um die Erde gesaust. In einem Jahr ergibt das 9,4 Billionen Kilometer. Das nennt man ein Lichtjahr. Auch das lässt mich staunen und ehrfürchtig sein. 

Was antworten Sie auf die Frage, ob die Theorie vom Urknall mit der Schöpfungsgeschichte vereinbar ist?
Zum Glück hat es diese Ansicht der Schöpfungsgeschichte gegeben. Das konnten die Menschen verstehen: Gott hat die Welt erschaffen, sie ist durch einen Schöpfergott entstanden. Weil man das nicht beweisen kann, ist es Glaube – ein einfaches, verständliches Bild. Gott hat alle Macht. Natürlich ist das naturwissenschaftlich nicht haltbar. Vor allem aber in monotheistischen Religionen gibt es diesen Schöpfungsmythos. Die Berichte der Genesis entsprechen sogar heutigen Kenntnissen. Die Abfolge der Geschehnisse ist recht logisch: Es fängt mit dem Licht an, zum Schluss kommt der Mensch. 

Sie sprechen den Glauben an. Sind Wissen und Glaube klar definierte und trennbare Begriffe? Wo hört die Wissenschaft auf und wo beginnt der Glaube?
Beides zu vermischen, ist nicht gut. Aber: Sind die Begriffe bipolar? Oder besteht doch eine gemeinsame Schnittmenge? Ich stehe da an und zweifle. 

Wagen es Besuchende gar, Sie direkt zu fragen, ob Sie an Gott glauben?
Ich weiss es nicht, ob die Kolleginnen und Kollegen auch gefragt werden. Wir sind ganz der Wissenschaft verpflichtet und kennen voneinander weder die Konfession noch Religionszugehörigkeit. Aber ich werde gefragt. Meist folgendermassen: Glauben Sie denn an Gott? Ich provoziere halt manchmal etwas mit meinen Aussagen. 

Was antworten Sie darauf?
Ich antworte im agnostizistischen Sinne: Ja, ich glaube daran, aber ich weiss nicht, ob es Gott gibt. Es ist ein ständiges Reiben. Die Bibel kann das naturwissenschaftlich auch nicht beantworten. Es bleibt mir das Glauben.

Wie stehen Sie dazu, wenn Menschen sagen, dass sie nicht an Gott glauben können?
Ich lasse ihre Meinung gelten. Wer bin ich? Ich bin nicht befugt, Leute umzustimmen. 

Interview: Béatrice Eigenmann, forumKirche, 16.03.2023


Bodensee Planetarium und Sternwarte Kreuzlingen
Bodensee Planetarium und Sternwarte werden von der Astronomischen Vereinigung Kreuzlingen betrieben. Diese wurde 1972 gegründet und hat rund 300 Mitglieder. Davon sind 25 ehrenamtlich tätig als Vorführer im Planetarium und als Demonstratoren in der Sternwarte. 
Weitere Infos: https://bodensee-planetarium.ch/
 

Gerhart Lehmann
Quelle: Béatrice Eigenmann
Gerhart Lehmann

 

 

 

 

 

 

Projektion mit Andromedagalaxie und Sternbildern
Quelle: Gerhart Lehmann
Projektion mit Andromedagalaxie und Sternbildern

 

 

 

 

 

 

Optomechanischer Projektionsapparat
Quelle: Béatrice Eigenmann
Gerhart Lehmann erklärt den optomechanischen Projektionsapparat im Planetarium Kreuzlingen

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