Was man über Judas Iskariot weiss

Das Interesse der Evangelien an Judas Iskariot ist gross, fast so gross wie an Simon Petrus, dem späteren «Leiter» der Jüngerschar. Es beruht allerdings auf einer unrühmlichen Tat: dem Verrat an Jesus. Martin Meiser, evangelischer Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes, legt dar, was über Judas erzählt wird, wofür er steht und wie sein Schicksal bis heute Menschen bewegt. 

Ist Judas Iskariot eine historische Person? In welchen Quellen kommt er vor?
Judas Iskariot ist eine historische Person. Er kommt nur in den vier Evangelien und in der Apostelgeschichte vor. Er ist einer der zwölf Jünger, die Jesus in seiner irdischen Lebenszeit berufen hat. 

Worauf deutet der Beiname Iskariot hin?
Es ist wahrscheinlich eine Herkunftsangabe. In älteren biblischen Quellen wird ein Ort namens Keriot genannt. Man gab Judas den Beinamen «von Keriot», um ihn von anderen mit dem Namen Judas zu unterscheiden. Diesen Namen gab es in dieser Zeit nämlich sehr häufig. Er geht auf Juda, einen der zwölf Jakobssöhne, zurück. 

Wie beschreiben die Evangelien Judas?
Bei Markus wird das Wesen der zwölf Jünger so beschrieben, dass sie bei Jesus sein, die Gottesherrschaft verkündigen und Dämonen austreiben sollen. Und dann heisst es von Judas: «Er ging hinweg von Jesus» (Mk 14,10). Das ist der Punkt, wo Judas nicht mehr der Jünger ist, der er einmal war 
Bei Matthäus finden wir erstmals den Vorwurf, dass Judas von sich aus Geld wollte. Bei Markus wird es ihm noch angeboten. Die 30 Silberlinge sind nicht der damaligen Wirtschaftskraft geschuldet, sondern es wird damit auf eine alttestamentliche Stelle (Sach 11,11f) verwiesen. Nur bei Matthäus bereut Judas seine Tat und möchte die 30 Silberlinge wieder zurückgeben (Mt 27,3-10).

Und die beiden anderen Evangelien? 
Bei Lukas wird Judas als jemand bezeichnet, in den der Satan gefahren ist (Lk 22,3). Dies ist eine damals nicht häufig belegte Vorstellung, dass in einen namentlich bekannten Menschen der Teufel einfährt. Das bedeutet nicht, dass Judas nicht für seine Tat verantwortlich ist. Der Teufel gewinnt nur Macht über den Menschen, wenn dieser sich aus eigenem Antrieb dem Wirken des Teufels öffnet. Das ist Konsens in antiker jüdischer Literatur.
Im Johannes-Evangelium wird Jesus die Ankündigung in den Mund gelegt, was Judas tun wird. Das ist apologetisch motiviert. Es gab antike Kirchenkritiker, die meinten, Jesus habe sich in der Auswahl seiner Jünger getäuscht und könne deshalb nicht Gottes Sohn sein. Deshalb wählt Jesus dem Johannes-Evangelium zufolge Judas aus, obwohl er weiss, was dieser tun wird. 

Was hat Judas getan?
Für die Tat des Judas wird immer das gleiche griechische Verb verwendet, nämlich paradidomi (ich übergebe), auch im Sinne von: Ich übergebe jemanden an die nächste Instanz. Dieses Verb kommt in der Kreuzigungsszene mit drei verschiedenen Subjekten vor: Judas übergibt, Gott übergibt und Jesus selbst übergibt sich seinen Widersachern. Die geläufige Deutung, dass Judas einen Verrat begangen hat, hat ihren Ursprung in Lk 6,16, wo er ein prodotes (Verräter) genannt wird.
Seine Tat bestand vermutlich darin, dass er den Hohepriestern einen Aufenthaltsort genannt hat, an dem Jesus häufiger und in geringer Begleitung anzutreffen war. Diese wollten die Gefangennahme in der Öffentlichkeit vermeiden, um nicht einen Volksaufruhr zu provozieren. Gerade im Vorfeld der hohen Feiertage Passahfest, Wochenfest und Herbstfest waren viele Festpilger in Jerusalem. Die Stimmung war alles andere als friedlich. Man hatte während der Hochfeste schon zwei Aufstände erlebt, die jeweils mit mehreren tausend Toten endeten. 

Hätte man Jesus nicht auch so ergreifen können?
Es wäre sicher auch anders möglich gewesen. Aber das Fehlverhalten des Judas hat den Hohepriestern den Zugriff erleichtert.

Welches Motiv könnte Judas gehabt haben, Jesus an die Hohepriester auszuliefern?
Historisch kann man gar nichts sagen. Man kann nur rekonstruieren, in welchem plausiblen Rahmen man sich sein Handeln überhaupt vorstellen kann. Eine Annahme geht davon aus, dass Judas enttäuscht gewesen sei, weil Jesus sich nicht öffentlich als der Messias bekannt habe. Er habe Jesus nötigen wollen, sich öffentlich als Messias zu bekennen. Er habe sogar noch auf ein Eingreifen Gottes gewartet. Als dieses ausgeblieben sei, habe er sich das Leben genommen. Eine andere Annahme geht vom Gegenteil aus: Judas sah in der Verkündigung Jesu von der nahenden Gottesherrschaft eher eine Gefährdung des nur mühsam aufrechterhaltenen Stabilitätszustandes im Lande Israel. An den hohen Feiertagen war die Lage in Jerusalem sehr angespannt. Es sollte den Römern nicht noch zusätzlich ein Vorwand geliefert werden, mit harter Hand durchzugreifen.

Welche Bedeutung kommt dem verräterischen Kuss zu?
Ein Kuss war ein alltägliches Begrüssungssignal zwischen Verwandten oder guten Freunden. Er hat in diesem Kontext keine erotische Bedeutung. Es war ein Zeichen der Verbundenheit. Auch Gemeindemitglieder haben sich mit dem heiligen Kuss begrüsst. Deshalb auch der Abscheu der ersten Christen vor dem Missbrauch dieses Zeichens, das Vertrautheit symbolisiert.

Judas Tod wird unterschiedlich beschrieben…
Historisch wusste man in der Gemeinde nicht mehr viel von Judas, nachdem er auf die Seite der Gegner gewechselt war. Er war danach nicht mehr in den Kreis der Anhänger zurückgekehrt.
Zu seinem Ende gibt es zwei Versionen: Matthäus schildert den Tod des Judas am Gründonnerstagabend als Suizid durch Erhängen (27,3-10), während die Apostelgeschichte davon ausgeht, dass Judas sich später vom Lohn ein Grundstück gekauft hat und dann dort durch einen unglücklichen Sturz ums Leben gekommen ist (1,15-20). In der alten Kirche hat man versucht, die beiden Versionen miteinander zu verbinden. 
Beide Formen des Todes wurden auf jeden Fall als Strafgericht Gottes verstanden. Man hat beim Suizid darauf verwiesen, dass Judas eine gewisse Reue gezeigt habe, aber die Reue unvollkommen gewesen sei oder die Verzweiflung durch den Teufel so überhandgenommen habe, dass Judas der Vergebung Christi nicht vertraut habe. Maximus von Turin bemerkt mit psychologischem Feingefühl, das Schlimmste sei, dass Judas sich selbst verurteilt habe: «Wenn einer sich selbst verurteilt, von wem wird er Nachsicht erbitten?»

Die Evangelisten haben ihre «Frohe Botschaft» für unterschiedliche Gemeinden geschrieben. Welche Intention verbanden sie mit der Judaserzählung?
Die Judasgestalt ist im Wesentlichen eine Mahnung. Bei Markus ist es die Warnung vor Denunziation und vor Gefährdung der eigenen Gruppe. Denn die markinische Gemeinde erlebte seitens der griechisch-römischen Gesellschaft zunehmend Misstrauen und Ablehnung. Bei Matthäus ist es die Warnung vor Habsucht. Bei Lukas ist es die Warnung, sich stets vor dem Bösen zu hüten. Bei Johannes steht die Verteidigung Jesu im Vordergrund, dass er sich bei der Auswahl seiner Jünger nicht getäuscht hat 

Wie entwickelt sich die Figur des Judas im Laufe der Jahrhunderte weiter? Wofür steht er?
In der alten Kirche vor der konstantinischen Wende verkörpert Judas den Prototyp des Zweiflers, des Gottesverächters, des Habgierigen, des von Gott Gestraften, des sündigen Apostels, des unvollkommenen Büssers. Er wird immer als warnende Figur eingesetzt, dass man nicht so werden soll wie er. Allerdings wird seine Reue auch als Mahnung verwendet. Anhand seiner Tat wird auch das Problem der menschlichen Willensfreiheit erörtert. Ab dem 4 Jahrhundert wird Judas zum Prototyp des verstockten Juden. Diese Entwicklung zeigt sich erstmals bei Hilarius von Poitier und bei Augustinus in seinen Psalmenkommentaren. Dass Judas auch im Mittelalter mit den Juden gleichgesetzt wird, ist vermutlich auf die Exegese von Psalm 109 zurückzuführen. Denn die mittelalterliche Exegese der Evangelien nimmt diese Gleichsetzung nicht vor.
Künstlerische Darstellungen und Passionsspiele haben dazu beigetragen, dass diese Gleichsetzung so verheerend wurde. Judas wurde so dargestellt, wie Juden allgemein dargestellt wurden: mit Hakennase, gelbem Gewand und struppigem Haar.

Judas wird jedoch nicht nur als Verräter gesehen…
Die Motive für eine Abkehr von dem Judasbild vor der Aufklärung lassen sich problemlos dem allgemeinen geistigen Umbruch dieser Zeit zuordnen: Kirchlich-traditionelle Deutungen des in der Bibel erzählten Geschehens werden hinterfragt; historisches Bewusstsein kommt auf, ebenso das Bemühen, eine Person aus ihrer eigenen Zeit und ihrer konkreten Lebenssituation zu verstehen. Goethe meint in «Dichtung und Wahrheit», dass Judas der Meinung gewesen sei, Christus würde sich als Regent und Volkshaupt erklären, und dass er es durch sein Handeln befördern wollte. 
«Judas» wird allgemein zum Symbol für Treulosigkeit und Verrat, unabhängig von den Inhalten. Er wird auch als Repräsentant derer gesehen, die durch kirchliches Handeln in Bedrängnis geraten sind und als Häretiker ausgegrenzt werden. In seinem Roman «Der Fall Judas» merkt Walter Jens zu Judas an: «Hätte er sich geweigert, unseren Herrn Jesus Christus den Schriftauslegern und Grossen Priestern zu übergeben … er wäre an Gott zum Verräter geworden». Der Schweizer Dichter Kurt Marti stellt die Reue des Judas der christlichen Selbstgerechtigkeit gegenüber. Mit Hilfe einer positiv gedeuteten Judasfigur portraitieren jüdische Autoren wie Amos Oz ihr Jesusbild und setzen sich kritisch mit dem Christentum auseinander. 

Wen sehen Sie in Judas?
Bei Spekulationen halte ich mich zurück, weil sie sich nicht beweisen lassen. Ich sehe in Judas jemand, der an Jesus irregeworden ist und der sich dann von ihm abgewendet hat. Sein Handeln hat dazu beigetragen, dass Jesus den Behörden ausgeliefert werden konnte. Beurteilen möchte ich seine Tat nicht. Das steht mir nicht zu. Die Figur muss letztlich offenbleiben, damit sie für uns noch einen Anstoss zur Selbstreflexion darstellt.

Interview: Detlef Kissner, 31.03.2022
 

Prof. Dr. Martin Meiser
Quelle: zVg
Prof. Dr. Martin Meiser hat zu den biblischen Grundlagen und der Wirkungsgeschichte der Person des Judas geforscht.

 

Judas
Quelle: Vassil/Wikimedia Commons
Judas als hinterhältiger Verräter (Glasfenster der Kathedrale von Moulins, 19. Jhd.)

Kommentare

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Erich Häring

01.04.2022, 14:53

Biblische Beiträge, in gut verständlicher Sprache, die einen wichtigen theologischen Gehalt zur Sprache bringen, schätze ich sehr.

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