Über Stolpersteine und ihre Bedeutung

Weil sie Juden waren, wurden Verwandte von Christiane Faschon in deutschen Konzentrationslagern ermordet. Ende letzten Jahres liess die Stadt Lich bei Frankfurt Stolpersteine zu deren Gedenken verlegen. Die in Berg (TG) wohnhafte Theologin erzählt, wie sie die feierliche Verlegung der Steine erlebte und welche Bedeutung ihnen aus ihrer Sicht zukommen.

Christiane Faschon weiss, was ihre Familie durch die Nazis erleiden musste. Ihr Vater, durch diese Ereignisse traumatisiert, erzählte bis zu seinem Tod immer wieder davon. Sein Auto war voller Notgepäck und Angst war sein täglicher Begleiter. Er selbst wurde nicht deportiert, weil er als Sohn eines «arischen» Vaters Kind einer sogenannten «privilegierten Mischehe» war (und getauft). Dafür musste er die Beschimpfungen und Schläge seiner Mitschüler und Lehrer und damit verbunden eine grosse Isolation erleiden. «Wegen seiner Herkunft verlor er dann auch seine Lehrstelle», erzählt Faschon. Durch Beziehungen kam er als Funker bei der Wehrmacht unter, wo er auch mit Informationen über die Vernichtung von Juden konfrontiert wurde. Und er erhielt Essen, das er nach Hause schickte, denn Mutter und Geschwister erhielten keine Lebensmittelmarken. Er bekam mit, wie seine nach Nazijargon «halbjüdische» Mutter bei Bombenangriffen im vierten Stock ausharren musste, weil eine Mitbewohnerin mit dieser «Judensau» nicht den Bunker teilen wollte.

«Mit diesen Menschen konnte mein Vater nach dem Krieg nicht mehr zusammenleben», so Christiane Faschon. 1955 wanderte er mit Frau und Kindern in die Schweiz aus. Seine Heimatstadt Lich besuchte er nie mehr.

Verstörende Details

Auch Christiane Faschon mied diesen Ort, an dem ihre Familie so viel Leid erfahren hatte. Erst nach gutem Zureden einer Cousine wagte sie vor einigen Jahren einen Besuch. Auf dem örtlichen Friedhof entdeckte sie Gräber ihrer Familie aus den Jahren vor 1937 und ihr wurde bewusst: «Meine Vorfahren waren vor den Verfolgungen integriert, ein echter Teil dieser Gesellschaft.»

Als sie im letzten Frühjahr die Einladung aus Lich zur Verlegung der Stolpersteine erhielt, war sie dafür dankbar: «Es ist eine Möglichkeit, sich an die ermordeten und geflohenen Familienmitglieder zu erinnern.» Auch bei Familienmitgliedern fand die Aktion Anklang. Obwohl der Weg nach Lich Christiane Faschon nach wie vor nicht leicht fiel, entschied sie sich, die Einladung anzunehmen. Ihre Tochter und ihre Enkelin begleiteten sie.

Dass man ihre Verwandten unter anderem enteignet, ihnen Schuhfabrik und Haus weggenommen hatte, war Christiane Faschon bekannt. Dass man im Zuge der Deportation auch die ganzen Schuhe, den Kinderwagen und die Puppe des Kindes auf die Strasse geworfen hatte, erfuhr sie erst bei der Steinlegung. «Es sind die kleinen Details, die so verstörend wirken, besonders wenn die eigene Enkelin neben einem steht», sagt die Theologin betroffen.

Anstelle von Gräbern

Und es kamen in diesem Zusammenhang noch weitere Dinge ans Licht, so zum Beispiel, dass ihre Urgrossmutter noch einen Bruder hatte: «Von ihm ist in unserer Familie nie geredet worden.» Diese interessanten Erkenntnisse lieferten eine Kommission und eine Schülergruppe, die zur Vorbereitung der Steinlegung intensive Recherchen über die Familien und die Hintergründe der damaligen Ereignisse durchgeführt hatten. Auch die Begegnungen und der Austausch bei den begleitenden Veranstaltungen erlebte Christiane Faschon als sehr wertvoll. Die Stolpersteine stehen für sie anstelle der Gräber der ermordeten Verwandten: «Denn sie hatten ja nie Gräber.» Ausserdem mahnen sie zu Achtsamkeit und zu Mut, sich gerade heute gegen menschenverachtendes Verhalten zu stellen. Christiane Faschon fände es gut, wenn auch die rund 400 Schweizer KZ-Opfer, auf deren Schicksal im neu erschienenen Band «Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reiches» eingegangen wird, mehr Aufmerksamkeit erfahren und mit einem Stolperstein gewürdigt würden.

Detlef Kissner (14.1.20)


Zum Projekt Stolpersteine

Der Künstler Gunter Demning rief 1992 das Projekt Stolpersteine ins Leben. In den Weg eingelassene Messingtafeln erinnern an das Schicksal von Menschen, die durch die Nationalsozialisten vertrieben, deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. Es handelt sich um Menschen mit jüdischen Wurzeln, mit Behinderungen, aus der Volksgruppe der Sinti und Roma, politisch Unbequeme oder einfach Andersdenkende. Bis Ende 2019 wurden 75'000 dieser Gedenksteine in 24 europäischen Ländern verlegt, auch in Kreuzlingen und Konstanz. 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Stolpersteine, geschmückt mit weissen Rosen,
Zeichen des Widerstandes

 
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Christiane Faschon mit Tochter und Enkelin bei der Zeremonie. 

 
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Gunter Demning, Künstler und Initiator der Stolpersteine, bei der Zeremonie in Lich. 


Bilder: zVg

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