Wahre Liebe

Das Mütterchen sass als Fragment
des Lebens da – und war dement.
Sie wusste was – doch niemals das, w
as grade war, weil sie’s vergass.

Sie war im Heim, vier Jahre schon.
Und jede Woche kam ihr Sohn
dreimal vorbei, besuchte sie.
Doch sie erkannte ihn halt nie.

Erst wenn Fernandes, wie er hiess,
sich nahe bei ihr niederliess
und liebevoll von früher sprach,
erinnerte sie sich dann nach
und nach an den vertrauten Ton
und bruchstückhaft an ihren Sohn.

Sie tranken Tee. Dann fragte sie:
«Warum besuchst du mich denn nie? –
Dein Bruder aus Amerika
war gestern und vorgestern da!»

Fernandes strich ihr übers Haar.
Den Bruder, der nicht wirklich war,
erwähnte Mutter stets geschwind…
Fernandes war ein Einzelkind.

«Warum tun Sie sich, guter Mann,
das jede Woche dreimal an?
Ihr Mütterlein erkennt Sie nicht! –
Befreien Sie sich von der Pflicht,
denn Ihr Besuch hat keinen Sinn…»,
so sprach zu ihm die Pflegerin
professionell und etwas kühl.

«Mein Antrieb ist kein Normgefühl.
Ich komm aus Liebe, nicht als Pflicht!
Und wie auch immer Mutter spricht
und mir verbalen Lohn verwehrt:
sie hat das Lieben mich gelehrt –
seit jener Zeit im Mutterschoss –:
Wer liebt, der liebt bedingungslos!»


CHRISTOPH SUTTER (20.8.19)


 

Freundschaftsliebe

Die alte Frau war lange schon dement,
wusste kaum mehr, wo sie ist,
ob sie jemanden kennt,
ihr schmeckt, was sie isst.

Täglich kam die Tochter ein, zwei Stunden,
wurde begrüsst mit «Sie» und mal mit «Du».
Sie hat sich damit abgefunden,
erzählt Geschichten und hörte zu.

Manchmal gingen sie spazieren,
schauten nach oben, wo die Wolken sind,
wie Blätter die Farbe verlieren,
und lauschten still dem Wind.

Sie hielt die Hand der alten Frau,
die zog sie manchmal schnell zurück,
und sie wusste nie so genau,
ist’s vor Angst oder etwas Glück.

So ging das schon seit Jahren,
die Tochter kennt man gut im Haus,
sie kam jetzt selbst mit grauen Haaren,
und manchmal sah sie müde aus.

«So eine Tochter möcht' ich haben»,
sagten manche nicht ohne Neid,
die selber kaum ein Lächeln gaben,
man tat sich meistens selber leid.

Eines Tages kam sie nicht,
der Tod hat sie zu früh erwischt.
Die alte Frau starb bald danach,
und viele sagten: «Ach,

schade, musste die gute Tochter vorher gehen,
tat so viel und ist beim Abschied nicht dabei!»
«Es war gar nicht die Tochter, das eigene Kind»,
sagte jemand, «es war, weil sie Freundinnen sind.»

Die da kam und nach der alten Dame sah,
hatte ihrer Freundin auf dem Sterbebett versprochen,
sei sie an ihrer Stelle für die kranke Mutter da.
Sie hat das Versprechen nie gebrochen.


GABY ZIMMERMANN 


 

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Bild: shutterstock.com

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