Einblicke in die christlich-abendländische Zeitrechnung

Auch wenn der Einfluss des Christentums auf die westliche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen ist, würde kaum jemand unsere Zeitzählung hinterfragen, die sich auf Jesu Geburt bezieht. Die Zeit hat mit dem Göttlichen zu tun, erklärt Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg, und ist damit unantastbar. Im Interview zeigt er auf, wie sich die christliche Zeitrechnung etablierte und weiterentwickelte.

Welche Bedeutung hat die Bestimmung der Zeit für die Menschheitsgeschichte?

Die Bestimmung der Zeit hat eine fundamentale Bedeutung ähnlich wie die Erfindung der Schrift. Beides hängt ja auch zusammen. Zeit wird in den frühesten Kulturen religiös aufgefasst. Sie hat bis heute eine metaphysische Dimension: Wer in die Zeit eingreift, stört die Weltordnung. Es liegt im Wesen des Menschen, die amorphe Masse der Geschichte übersichtlich zu machen, zu gliedern, mit Sinn zu erfüllen, indem er sie auf einen religiösen Ursprung bezieht.

Wie wurden Zeitpunkte und -räume vor der christlichen Zeitrechnung angegeben?

Die erste sichere Datierung, die man nicht rekonstruieren muss, sondern die man aus Zeugnissen übernehmen kann, ist in Griechenland die Zählung nach Olympiaden, die alle vier Jahre stattfanden. Ab 776 v. Chr. ist dies eine sehr sichere Chronologie. Ebenfalls auf sicherem Boden stehen wir im Blick auf die römische Republik, wo nach Konsulatsjahren datiert wurde. Das erlaubt dort ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. eine lückenlose Zeitrechnung. In Ägypten hat die Forschung grössere Schwierigkeiten, da es dort keine durchlaufende Chronologie gab.

Wie kam es zur Zählung nach Olympiaden?

Die frühen Olympiaden waren Events für die aristokratische Führungsschicht, die sich bei diesen Treffen in Wettbewerben mass. Die griechische Kultur ist ja stark durch Wettbewerb geprägt. Die Wettkämpfe wurden zu Ehren des obersten Gottes Zeus abgehalten. Somit hatte die Datierung nach Olympiaden auch einen religiösen Bezug.

Wann begann man damit, die Geburt Jesu zum Bezugspunkt unserer Zeit zu machen?

Das Christentum musste sich zunächst als Religion durchsetzen. Im Laufe des 4. Jahrhunderts wurde es erstmals geduldet und entwickelte sich dann zur Staatsreligion. Das Christentum war sehr unduldsam gegenüber den antiken Kulturen. Alte Kulte wurden abgeschafft. Als die Olympiaden endeten, fielen diese als Bezug für die Zeitzählung weg (394 n. Chr.). In dieser Zeit der Spätantike entwickelte man dann die Zeitzählung nach Christi Geburt, allerdings mit beträchtlichen Schwierigkeiten, weil dieses Datum ja nicht sicher fixiert ist.

Diese Neuausrichtung entsprang dem Bedürfnis, der Zeit wieder eine sakrale Dimension zu geben. Gleichzeitig hat man andere antike Zeitzählungen nicht mehr als adäquat akzeptiert, alles Heidnische wurde zurückgedrängt.

Wo hat sich die christliche Zeitzählung etabliert?

Überall da, wo sich das Christentum durchgesetzt hat, also im mediterranen Raum sicher seit dem 6./7. Jahrhundert n. Chr. Nördlich davon dauerte es länger.

Wie errechnete man das Jahr 1?

Man hatte antike Quellen, die das Leben Jesu einigermassen sicher datieren. Die Kreuzigung wurde mit der Regierungszeit des Tiberius, die man auf 14–37 n. Chr. datieren konnte, und mit der Statthalterschaft des Pontius Pilatus zusammengebracht. Damit war ein Zeitrahmen gegeben. Die Lebenszeit Jesu hat man immer auf 30 bis 33 Jahre berechnet. Diese Zeugnisse erlaubten eine relativ genaue Bestimmung der Geburt Jesu.

Die Geburt Jesu wurde auf das Jahr 1 datiert. Das historische Jahr 0 hat es nie gegeben. Das führte immer wieder zu Irrtümern wie z. B. beim Millenniumswechsel. Das Jahr 2000 gehört demnach noch zum 20. Jahrhundert.

Wie wurde das Geburtsjahr Jesu schlussendlich festgelegt?

Es gab zunächst verschiedene Datierungen und Schwankungen. Der Beginn der christlichen Zeitrechnung mit der Geburt Jesu pendelte sich relativ früh ein. Dennoch gab es in Europa lange Zeit keine einheitliche Zeitrechnung, weil das Jahr nicht überall am 1. Januar, sondern zu unterschiedlichen Zeiten begann.

1582 korrigierte Papst Gregor XIII. den bestehenden Kalender. Was führte zu dieser Reform?

Die europäische Astronomie war am Ende des 16. Jahrhunderts weit fortgeschritten. Der dänische Adlige Tycho Brahe war ein grosser Meister der Himmelsbeobachtung. Es wurde sehr deutlich, dass der julianische Kalender, der von Julius Cäsar im Jahr 45 v. Chr. im Römischen Reich eingeführt worden war, mit den tatsächlichen astronomischen Verhältnissen nicht mehr übereinstimmte. Man konnte berechnen, dass es eine Abweichung von 10 Tagen gab. Diese führte zu Unstimmigkeiten und Störungen bei der Festlegung des Osterdatums.

Wie war es zu dieser Abweichung gekommen?

Die wissenschaftlich schon weit fortgeschrittene Zeitrechnung des julianischen Kalenders stimmte nicht mit der exakten Dauer des Jahres überein. Dass alle vier Jahre ein Schaltjahr eingeschoben wurde, kam der Realität zwar sehr nahe, reichte aber nicht ganz. Die Jahre waren um einige Minuten zu kurz, was in der Summe von 1600 Jahren die Abweichung von zehn Tagen ergab. So wurde es notwendig, zehn Tage zu überspringen. Papst Gregor XIII. veranlasste, dass im Jahr 1582 auf Donnerstag, den 4. Oktober, Freitag, der 15. Oktober, folgte. Das war ein tiefer Einschnitt, ja Skandal für viele Menschen. Sie hatten das Gefühl, dass man ihnen ihre Zeit raubte. Die Verkürzung des Jahres musste man auch bei Abgaben, Renten und Steuern berücksichtigen.

Welche Bedeutung hatte die Kalenderreform?

Sie war eine grosse wissenschaftliche Leistung, mit der das Papsttum unter Beweis stellte, dass es auf der Höhe der Gelehrsamkeit der Zeit war. Sie war nicht nur eine religiös motivierte Operation, sondern auch eine Demonstration: «Wir sind kulturell spitze, wir sind Vorreiter einer wissenschaftlichen Bereinigung der Zeit.» Das hat in Gelehrtenkreisen grossen Eindruck gemacht. Die Reform war unter führenden Gelehrten überkonfessionell unumstritten. Das Problem für das protestantische Europa war, dass die Reform vom Papst, dem «Antichristen», ausging. Deshalb haben viele europäische Länder sehr lange gebraucht, bis sie die neue Zeitrechnung übernahmen. Dies führte zu charakteristischen Differenzen. So kann man lesen, dass Cervantes und Shakespeare am selben Tag gestorben sind, nämlich am 23. April 1616. Diese Erkenntnis stimmt aber nicht, da in Spanien zu dieser Zeit bereits der neue Kalender in Kraft war, in England aber nicht.

Zu Verwirrung hat diese unterschiedliche Angleichung in gemischt konfessionellen Gebieten wie z. B. in der Eidgenossenschaft geführt. In den einzelnen Kantonen gab es verschiedene Zeitrechnungen. Erst am Anfang des 18. Jahrhunderts schwenkte Europa – mit Ausnahme Russlands – auf den gregorianischen Kalender um.

Wie Sie schon angemerkt haben, gab es in Europa verschiedene Jahresbeginne. Was führte zu diesen Unterschieden?

Man orientierte sich an lokalen Gebräuchen und Heiligenfesten. In nicht wenigen Staaten und Städten begann das neue Jahr erst Ende März, so z. B. in Florenz. Das führte dazu, dass man falsche Lebensdaten von Prominenten wie z. B. Michelangelo hatte. Nach unserer Zeitzählung ist er am 6. März 1475 geboren, was in Florenz noch in das Jahr 1474 fiel.

Wie setzte sich der 1. Januar als Jahresanfang durch?

Mit der europäischen Staatsbildung verschwanden die lokalen Sonderdatierungen. Spätestens mit dem 18. Jahrhundert, als man sich solche Extravaganzen nicht mehr leisten konnte, ging der Staat vereinheitlichend, zentralisierend, auch gegen volkstümliche Mentalitäten vor.

In der Geschichte Europas gab es Versuche, die christliche Zeitrechnung zu ersetzen…

Ja, im Zuge der Französischen Revolution wurde ein solcher Versuch unternommen. Die jakobinischen Revolutionäre wollten das Christentum abschaffen. Dies sollte auch mit dem Beginn eines neuen Zeitalters erreicht werden. Die neue Zeitrechnung sollte mit der Zweiten Revolution am 22. September 1792 beginnen. Die Monate bekamen neue Namen, die Wochen wurden in Dekaden umgewandelt. Diese neue Chronologie ist beim Volk aber nie angekommen. Der italienische Diktator Mussolini startete mit der Era fascista, die am 29. Oktober 1922 mit seiner Vereidigung zum Ministerpräsidenten beginnen sollte, nochmals den Versuch einer neuen Zeitrechnung. Auch er scheiterte.

Solche Versuche endeten in einer Art Komik und in Misstrauen. Denn die Zeit liegt bei Gott. Wer sich anmasst, die Zeit zu verändern, versündigt sich, begeht ein Verbrechen gegen Gott. Das war die Mehrheitsauffassung des Volkes. Sie spiegelt sich noch heute im Widerwillen gegen die Umstellung von Winter- auf Sommerzeit.

Wie entwickelte sich die Unterteilung in Wochen und Monate?

Der Wochenrhythmus ist nach dem Mondkalender gegliedert und wurde in der jüdischen Religion auf die alttestamentliche Schöpfungserzählung von Genesis 1 bezogen: Der Sonntag war dann der Tag des Herrn, an dem Gott von seinem Schöpfungswerk ausruhte.

Mit der Monatseinteilung gab es immer schon Probleme. Das sieht man z. B. am verkürzten Februar. Man tat sich schwer, die astronomische Zeit mit der gezählten Zeit in Übereinstimmung zu bringen. Die Julianische Kalenderreform ist schon eine Reaktion auf das heillose Durcheinander in der Zeitrechnung.

Interview: Detlef Kissner (3.1.20) 

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Volker Reinhardt ist Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg.

Bild: zVg

 
 
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Papst Gregor XIII. reformierte den Julianischen Kalender (Porträt von Lavinia Fontana).

Bild: Christie's/Wikimedia Commons

 
 
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Kolorierte Abbildung von Tycho Brahes zweiter Sternwarte, Stjerneborg, deren Beobachtungsräume teilweise unterirdisch lagen.

Bild: Johan Blaeu/Wikimedia Commons

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