Missbrauch hat immer vielfältige Ursachen

Erstmals präsentierte nun die Evangelische Kirche Deutschlands eine Studie zu sexueller Gewalt. Das Ergebnis sind ähnlich erschreckende Zahlen wie bei der katholischen Kirche. Tatorte waren Gemeinden ebenso wie Heime. Das Durchschnittsalter der Opfer lag bei nur 11 Jahren!

In Debatten über die kirchlichen Missbrauchsfälle wurde meist spezifisch katholischen Faktoren wie dem Zölibat oder der hierarchischen Kirchenstruktur ein bestimmender Einfluss zugeschrieben. Umso grösser war nun das Entsetzen über die Ergebnisse der evangelischen Missbrauchsstudie. «Kein Grund für katholische Schadenfreude», meinte das Zürcher Medienportal kath.ch in einer ersten Reaktion. Sondern ein Anlass, um missbrauchsfördernde Faktoren genauer in den Blick zu nehmen.

Problematisches Selbstbild
«Bei uns sind die Hierarchien nicht so verkrustet wie in der katholischen Kirche, wir haben keinen Zölibat: Dieses Selbstbild tragen viele in der evangelischen Kirche vor sich her. Und weil man sich auf der fortschrittlichen Seite wähnt, sonnen sich nicht wenige in der Annahme, sexualisierte Gewalt sei vor allem ein Problem der anderen», schreibt etwa das evangelische Magazin «chrismon». Es gebe eine idealisierte Selbsterzählung, dass so etwas bei uns gar nicht vorkommen könne, meinte Studienautor Martin Wazlawik.
Hinzu komme die föderale Kleinteiligkeit. Die Vielfalt an Landeskirchen und Institutionen fördere die Auflösung der Verantwortlichkeit und erschwere die Aufklärung. Ziel der Studie sei es gewesen, Risikofaktoren für sexuelle Gewalt zu identifizieren. Die Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz, Rita Famos, meinte in Reaktion auf die Veröffentlichung der Studie: «Was mich an dieser Studie erstaunt, ist, dass die Strukturen nur das eine sind. Das andere sind die charismatischen Persönlichkeiten, die oft zu Tätern werden, weil Menschen sich ihnen anvertrauen und andere nicht wagen, sie zu konfrontieren.»

Beziehung als «Problemfeld»
Rita Famos meinte weiter: «Kirche lebt von Beziehungen, oft zwischen Schutzbedürftigen, die sich geistlichen Autoritäten anvertrauen. Wir sind deshalb besonders anfällig und müssen an einer Kultur arbeiten, die Missbrauch aktiv verhindert!» Studienautor Wazlawik benannte die Pastoralmacht der Pfarrer und ihr rhetorisches Geschick als ein Merkmal, das den kirchlichen Missbrauch von jenem im Sportverein unterscheidet. Weil es diese Gewalt aber auch in Sportvereinen und besonders in der Familie gebe, sei es notwendig, überall Machtstrukturen und pathologische Erkrankungen von Tätern genauer in den Blick zu nehmen.

chrismon.de/welt.de/kath.ch/KG, 14.02.2024


«Erst kommt die Gerechtigkeit»

Der Jesuit Hans Zollner nimmt Stellung zur deutschen Studie:

Herr Zollner, Sie sind Experte zum Thema Missbrauch. Waren Sie vom Ergebnis der Studie überrascht?
Nein, keineswegs. Es war bekannt, dass die Struktur der katholischen Kirche und der Zölibat nicht als einzige Ursache für den Missbrauch gelten können. Entscheidend ist, wie in einem System Macht ausgeübt und missbraucht werden kann.

Ist die Idee falsch, dass man wegen des Missbrauchs den Zölibat lockern und die klerikale Hierarchie reformieren sollte?
Es ist nicht falsch, darüber nachzudenken, was sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche begünstigt hat. Aber es ist zu kurz gedacht, wenn man meint, dass verheiratete Priester oder mehr Frauen in der Leitung der Kirche an sich schon Missbrauch verhindern würden. Das Problem ist viel komplexer. Es geht um grundlegendere Fragen.

Welche Rolle spielt die Struktur der Religionen?
Religion ist nicht einfach gut, das sieht man auch an den Kriegen im Namen von Religionen. Religion kann Gewalt und Missbrauch verhindern – und auch befördern. Aber es liegt nicht einfach nur an den Institutionen an sich. Sonst müsste man fordern, die Familie abzuschaffen, weil es dort die meisten Missbrauchsfälle gibt. Aber Familie gibt auch Schutz. Alle menschlichen Systeme sind anfällig für Missbrauch, deshalb müssen sie sich klare Regeln geben und sich daran halten. Und es hilft nichts zu sagen, wir müssen vergeben. Vergebung gehört zum Markenkern des Christlichen, aber vorher kommt die Gerechtigkeit. Erst muss die Schuld anerkannt und in ihrer ganzen Tiefe durchgearbeitet werden.

Ludwig Ring-Eifel, KNA/Red.
 

Kirche lebt von Nähe – und wird dadurch anfällig für Missbrauch.
Quelle: fizkes/istock
Kirche lebt von Nähe – und wird dadurch anfällig für Missbrauch.

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