Mehr in Entwicklungszusammenarbeit investieren

Die Vereinten Nationen haben sich auf eine Welt ohne Armut verpflichtet. Doch selbst reiche Länder wie die Schweiz verfehlen dieses Ziel. Die Historikerin Marianne Hochuli (63) leitet die politische Grundlagenarbeit bei Caritas Schweiz und ist Mitglied der Geschäftsleitung. Im Interview kritisiert sie den nationalen UN-Bericht zur Agenda 2030 und fordert mehr Anstrengungen. 

Sie kritisieren den Schweizer Bericht zur Agenda 2030. Was ist positiv daran?
Die Schweiz erkennt damit an: Die Agenda 2030 ist ein wichtiger Referenzrahmen für die nachhaltige Entwicklung. Das ist eine Chance. Die Schweiz soll entsprechende Massnahmen ergreifen, um ihre Nachhaltigkeit zu verbessern. Mir gefällt zudem, dass der Bericht auf gewisse Inkohärenzen hinweist.

Was meinen Sie damit?
Ein Umweltziel kann sich an einem Sozialziel reiben. Unser Verbrauch ist dreimal zu hoch, wir müssten ihn einschränken. Das wird zwar angemerkt. Doch leider werden daraus keine Konsequenzen gezogen. Es bleibt unklar, wie dieser Widerspruch aufgelöst wird, also welche Massnahmen dagegen ergriffen werden. Das Ganze ist zu oberflächlich gehalten.

Inwiefern oberflächlich?
Die Chancen für Veränderungen sind offensichtlich erkannt. Aber die Ansätze werden nicht runtergebrochen auf konkrete Ziele. Es müsste klar kommuniziert sein: Wo stehen wir in der Schweiz? Und was wollen wir erreichen bis zum Jahr 2030?

Finden Sie etwas Weiteres problematisch?
Ja. Vieles im Bericht bezieht sich auf die Politik auf Bundesebene. Doch es gäbe noch viel zur Politik der Kantone zu sagen. Die Armutspolitik wird hauptsächlich in den Kantonen gemacht. 

Die Schweiz will Armut bekämpfen. Das ist doch im Sinne von Caritas?
Ja. Nur setzt sich die Schweiz kein konkretes Ziel. In der Agenda 2030 der UNO steht: Die Armut muss in all ihren Formen beendet werden. Und dann wird angefügt: Jedes Land muss die Armut um mindestens die Hälfte reduzieren. Auf diese konkrete Vorgabe geht die Schweiz aber nicht ein. Je konkreter ein Land Ziele formuliert und Akteure benennt, umso eher muss es auch Massnahmen ergreifen, um diese zu erreichen und später Rechenschaft darüber ablegen, ob das gelungen ist. Ohne solche Zielformulierungen wird die Schweiz also kaum Rechenschaft über ihr Vorgehen ablegen können.

Die Schweiz will auch übermässigen Konsum reduzieren.
Der Bericht hält richtig fest: Wir sind ein reiches Land. Wir leben zum grossen Teil auf Kosten der Umwelt und der ärmeren Länder. Aber es steht nichts darüber, wie wir künftig anders konsumieren und produzieren sollten. 

Was heisst das für Armutsbetroffene?
Die nachhaltigen Produkte sind in der Schweiz bisher immer noch viel teurer als andere. Menschen mit niedrigerem Einkommen können sich diese gar nicht leisten. Hier könnte ein konkretes Ziel sein: Wie erreichen wir, dass sich die ganze Bevölkerung nachhaltig ernähren kann? Armutsbetroffene können gar nicht übermässig konsumieren. Sie müssen bei jeder Ausgabe überlegen, ob diese im Budget noch drin liegt.

Migrant*innen in der Schweiz überweisen jährlich sieben Milliarden Franken ins Ausland. Wie beurteilen Sie das?
Tatsächlich machen die Beiträge der Migrant*innen an ihre Herkunftsländer ein Vielfaches davon aus, was die Entwicklungszusammenarbeit leistet.

Ist das die Aufgabe der Entwicklungshilfe?
Um das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Ländern zu vermindern, wäre primär ein verstärktes Engagement der reichen Länder angesagt. Wir in der Schweiz investieren viel weniger in die Entwicklungszusammenarbeit, als wir eigentlich sollten. Die UNO schreibt hier 0,7 Prozent des Bruttoninlandproduktes vor. Wir sind bei nicht einmal 0,5 Prozent.

Die Schweiz will sich auch für sauberes Trinkwasser für alle einsetzen.
Das ist auf jeden Fall ein wichtiges Ziel. Hier schneidet die Schweiz international gesehen auch nicht schlecht ab.

Was müsste jetzt ganz konkret passieren, dass die Armut in der Schweiz bis 2030 halbiert ist?
Es braucht existenzsichernde Löhne und Arbeitsmodelle, einen schrankenlosen Zugang zu Bildungsangeboten für alle Menschen oder ein lückenloses Angebot an familienergänzender Kinderbetreuung, damit insbesondere Frauen Beruf und Familie vereinbaren können. Letzteres ist umso wichtiger, als Frauen den grössten Teil der unbezahlten Sorgearbeit übernehmen. Dies führt bei einer Scheidung direkt in die Armut.

Regula Pfeifer, kath.ch/Red., 06.07.2022


Nachhaltigkeits-Agenda 2030
Am 12. Juli wird der Bundesrat vor der UNO in New York darstellen, wie die Schweiz die UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung umsetzt. Das schreibt Caritas Schweiz in einer Mitteilung. Die Non-Profit-Organisation mit katholischem Hintergrund zeigt sich nur ansatzweise zufrieden mit dem nun zweiten Länderbericht der Schweiz. Der Bericht ist einsehbar auf: www.eda.admin.ch/agenda2030/de. Regula Pfeifer
 

Marianne Hochuli
Quelle: zVg
Marianne Hochuli leitet den Bereich Grundlagen bei Caritas Schweiz.

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