Ein Bibelwort macht antijüdische Karriere

Die Übersetzung «Auge um Auge, Zahn um Zahn» hat eine lange fatale Auslegung hinter sich. Sie ist schlicht falsch. Bis heute wird sie antijüdisch eingesetzt.

Bis heute glauben viele, der Satz «Auge um Auge» drücke das jüdische Verständnis von Gerechtigkeit aus. Dieses sei angeblich auf Rache aus, im Gegensatz zum Christentum, das auf Gnade und Barmherzigkeit basiere. Das Bibelzitat «ajin tachat ajin» wird in der Umgangssprache oft unreflektiert als Ausdruck für gnadenlose Vergeltung verwendet, etwa in Medienberichten für Kriegsaktionen, z. B. im Nahostkonflikt, oder als Roman- oder Filmtitel. Die falsche Übersetzung hat wirklich Karriere gemacht und antisemitische Vorurteile verstärkt.
Dabei basiert das Ganze auf einer klaren Fehlübersetzung. «ajin tachat ajin» kommt an drei Stellen in der Hebräischen Bibel vor (2. Mose 21,24, 3. Mose 24,20, 5. Mose 19,21). Es als «Auge um Auge» zu übersetzen, ist vollkommen falsch. Tachat bedeutet: anstatt, anstelle von, stellvertretend. Nach dem 1. Buch Mose 4,25f wird Seth «tachat/anstelle» des getöteten Abel geboren. Darum übersetzen die jüdischen Übersetzer Martin Buber und Franz Rosenzweig «ajin tachat ajin» mit: «Geschieht das Ärgste aber, dann gib Lebensersatz für Leben, Augersatz für Auge, ... Striemenersatz für Strieme.» Alle Aussagen erklären nachfolgend, dass die Strafe des Täters bzw. der Täterin aus finanziellen Entschädigungen für den zugefügten Schaden bestehe.

Schaden ersetzen
Der berühmte Rabbi Hillel lehrte, die Wiedergutmachung müsse den Ausgangszustand wiederherstellen (Restitution). Die Mischna* nennt um 200 n. Chr. (Bawa Kama, Kapitel 8) darum fünf Gebiete, auf denen Ersatz zu leisten ist: Schadenersatz (neseq), Schmerzensgeld (zaar), Heilungskosten (rifui), Arbeitsausfallersatz (schewet), Beschämungsgeld (boschet). Letzteres trifft zu, wenn sich jemand geniert, sich mit seiner körperlichen Verletzung zu zeigen, oder sich nicht zeigen kann.
So ist etwa je nach Beruf bzw. Lebenssituation der Schaden ein anderer: Fehlt jemandem ein Auge, kann sie*er noch in der Landwirtschaft, als Handwerker oder im Haushalt arbeiten. Ganz sicher aber nicht mehr als Toraschreiber oder als Goldschmied. Je nachdem wird «neseq» festgesetzt. Auch die Summe für den Arbeitsausfall fällt unterschiedlich aus - je nach Alter und Beruf sowie der Schwere der Verletzung. Das Beschämungsgeld ist ein besonderer Punkt: So würde sich etwa ein*e Diener*in einer hochgestellten Persönlichkeit nicht mit einer Verletzung in der Öffentlichkeit zeigen können bzw. wollen. Auch dies muss finanziell berücksichtigt werden. 

Geld als Schadenersatz
In den Kommentaren verschiedener Rabbiner wird eine Körperstrafe ausdrücklich zurückgewiesen. Im Ergebnis folgt man der Meinung von Rabbi Hyya: «Hand für Hand, das bedeutet etwas, das aus einer Hand in die andere gegeben wird, nämlich eine Geldzahlung.» Und: Wer eine*n Schuldsklav*in verletzt, muss diese*n freigeben und auf die Restschuld verzichten.
In der ganzen jüdischen Geschichte hat nie ein rabbinisches Gericht einem Menschen ein Auge ausgeschlagen als Strafe, weil dieser einem anderen ein Auge ausgeschlagen hatte. Jedem rabbinischen Gericht war klar, dass «ajin tachat ajin» bedeutet, dass die Angeklagten die Verletzung finanziell entschädigen müssen. Tradition und Praxis belegen, dass die richtige Übersetzung «Augersatz für Auge» und «Zahnersatz für den Zahn» heisst! 
Bei der falschen Übersetzung wird gern vergessen, dass das Gebot der Nächstenliebe nicht von Jesus, sondern bereits aus dem 3. Buch Mose 19 stammt. Der 18. Vers heisst: «Du sollst dich nicht rächen, auch nicht an deinem Zorn festhalten. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Hebräisch kamocha, eigentlich: denn er ist wie du). Ich bin der Ewige.» Wir sollen dem anderen also keinen Schaden zufügen und uns selbst auch nicht. Hass und Wut sollen uns nicht vergiften. Die*der Nächste und ich sind von gleicher Art. Damit ist auch jeder Idee, dass eine körperliche Verletzung als Strafe angebracht ist, der Boden entzogen.

Christiane Faschon, 16.02.2022

*Die Mischna ist eine der wichtigsten Sammlungen religionsgesetzlicher Überlieferungen des Judentums und die Basis des Talmud.
 

Skulptur von Josefina de Vasconcellos
Quelle: Wikimedia Commons
Die Regel «Auge für Auge» hat Versöhnung zum Ziel (Skulptur von Josefina de Vasconcellos in den Ruinen der Kathedrale von Coventry).

Kommentare

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Erich Häring

09.03.2022, 18:28

Ich freue mich über die Reihe von Frau Faschon, die biblische Themen aufnimmt. Gut geschrieben.

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