Gefahren der Demokratie durch Antisemitismus und Rassismus

Ihre Eltern haben die Reichspogromnacht des Jahres 1938 überlebt. Heute engagiert sich Anita Winter für Holocaust-Überlebende in der Schweiz und anderswo – und gegen das Vergessen des nationalsozialistischen Terrors. 

Anita Winters Vater hat die Reichskristallnacht als 16-Jähriger allein in Berlin überlebt. Er beschloss, Deutschland zu verlassen und in die Schweiz zu flüchten, da seine Mutter vor der Heirat Schweizerin gewesen war. Seine Flucht gelang. Winters Mutter war vier Jahre alt, als SS-Truppen das herrschaftliche Haus der Eltern in Nürnberg stürmten, völlig verwüsteten, ausraubten und Winters Grossmutter gefangen nahmen. Diese wurde gezwungen, ihr Haus zu überschreiben, um ihr Leben zu retten. Ihr gelang danach die Flucht nach Frankreich mit ihrer Tochter und dem Sohn, der damals ein Baby war. Nach ihrer Heirat 1961 lebten die Eltern von Anita Winter in der Schweiz.

Was macht all diese familiäre Vergangenheit emotional mit Ihnen. Empfinden Sie Angst?
Es ist nicht Angst, was ich empfinde. Aber ich weiss als indirekt Betroffene: Wir müssen aus der Geschichte lernen und Verantwortung tragen. Wir dürfen nicht gleichgültig sein.

Woher wissen Sie von den Reichskristallnacht-Erfahrungen Ihrer Eltern?
Mein Vater hat uns immer wieder davon erzählt, meinen Geschwistern, mir und auch seinen Enkeln. Denn er fand: Was er in Berlin mit eigenen Augen gesehen hatte, war unglaublich. In einem Interview mit der NZZ vom 9.11.2018 sagte er: «Der Weg von der Zivilisation zur Barbarei ist kurz.» Über diese Worte und seine Erfahrungen reden wir in unserer Familie im Moment oft.

Und wie ist es bei Ihrer Mutter?
Auch meine Mutter erzählte von der Reichskristallnacht und dem, was ihr auf der Flucht widerfuhr, aber selten. Da sie damals noch sehr klein war, hat sie wohl einiges davon von ihrer Mutter Rosa erfahren. Aber weshalb Rosa damals im Visier der Nazis war, habe ich erst vor Kurzem erfahren – durch einen Journalisten, der ein Buch plant. Sie war die Sekretärin der jüdischen Gemeinschaft und hatte den Schlüssel zur Synagoge und den Büros. Die Nazis wollten wohl Zugang zu Informationen im Hinblick auf die geplanten Deportationen. Sie setzten die Synagoge in der Pogromnacht in Brand.

Was löst der Angriff von Hamas-Terroristen am 7. Oktober auf Juden in Israel bei Ihnen aus?
Dafür finde ich keine Worte. Der barbarische Angriff von Hamas-Terroristen hatte enorme Auswirkungen auf jüdische Gemeinden weltweit. Politik und internationale Organisationen verurteilten die Taten aufs Schärfste. Dennoch gab es in vielen Ländern Demonstrationen, bei denen einzelne Personen den Angriff der Hamas feierten und zu antisemitischen Übergriffen aufriefen.

Was sagen Sie dazu?
Ich bin erschüttert. Es ist für mich unfassbar. Die Politik, aber auch die Zivilgesellschaft sind aufgerufen, dem entgegenzuwirken.  

Was sagen die Holocaust-Überlebenden in der Schweiz zum Hamas-Angriff?
Sie sagen, sie hätten nie gedacht, dass sie so etwas erleben müssten. Seit dem Holocaust sind noch nie so viele jüdische Menschen an einem einzigen Tag getötet worden wie am 7. Oktober. Die Holocaust-Überlebenden haben am Anfang ihres Lebens mit eigenen Augen gesehen, wozu Menschen fähig sind – und nun am Ende wieder. Sie sagen: Die Geschichte lehrt uns, dass wir nicht schweigen dürfen. Wir müssen jetzt erst recht Aufklärungsarbeit machen und aufzeigen, wohin Antisemitismus und Rassismus führen können. Welche Gefahren drohen, auch für die Demokratie selbst. Sie merken, ihr Einsatz im Kampf gegen den Antisemitismus, für Toleranz und Sensibilisierung ist sehr wichtig.

Kann es sein, dass der Angriff Erinnerungen an den nationalsozialistischen Terror triggert?
Für die jüdischen Menschen in Israel und weltweit ist seit dem 7. Oktober nichts mehr wie zuvor. Unsere Herzen sind erschüttert. Wir denken voller Trauer an die 1400 Menschen, die von der Hamas in Israel ermordet wurden. Und wir sind in grosser Sorge um die mehr als 200 entführten Geiseln. Aber wir erhalten eindrückliche Solidaritätsbekundungen, viele Briefe, Mails, Anrufe und Unterstützungsangebote. Das berührt uns sehr.

Gibt es auch Hoffnung?
Viele Holocaust-Überlebende sagen immer wieder, sie hätten Vertrauen in die junge Generation. Es sei berührend, wie die jungen Menschen ihre Herzen öffneten, wenn sie von Holocaust-Erfahrungen hörten. Das macht uns Hoffnung.

Regula Pfeifer, kath.ch/Red., 15.11.2023
 

Anita Winter
Quelle: zVg
Anita Winter präsidiert eine Stiftung für Holocaust-Überlebende.

Kommentare

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ChrisPrelp

25.04.2024, 16:15

Hello, im noob :)

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