Wie sich Menschen mit Depressionserfahrung gegenseitig helfen können

Der 55-jährige Mario Sonderegger aus dem appenzellischen Heiden litt selbst jahrelang an Depressionen. Nun unterstützt er, als sogenannter Peer*, andere Betroffene auf ihrem Genesungsweg. In Weinfelden begleitet er deshalb eine neue Selbsthilfegruppe der Selbsthilfe Thurgau. 

Warum haben Sie in Weinfelden eine neue Selbsthilfegruppe für depressive Menschen gegründet? 

Weil ich selbst von der Krankheit betroffen bin. Insgesamt war ich dreimal im Psychiatrischen Zentrum in Herisau in Behandlung. Dabei habe ich gemerkt, dass mir der Austausch mit anderen Betroffenen hilft, weshalb ich mich für eine Ausbildung zum Genesungsbegleiter (Peer) entschied. Davon habe ich persönlich sehr profitiert, denn in einem ersten Schritt setzt man sich genauer mit dem eigenen Gesundungsweg auseinander. Man lernt, wie Gesundheit entsteht und wie man sie erhalten kann, entdeckt seine verschütteten Potenziale wieder. Als Peer bin ich unter anderem auch bei der Selbsthilfe Thurgau angestellt, begleite dort schon verschiedene Gruppen und neu jetzt auch diese Nachmittagsgruppe. 

Wie unterstützen Sie die Betroffenen in Ihrer Funktion als Peer? 

Ich schaue mir mit den Gruppenteilnehmern gemeinsam an, was sie benötigen, damit sie ihren Alltag bestreiten können. Man begegnet sich dabei auf Augenhöhe und kann voneinander profitieren. In der Gruppe liegt der Fokus nicht auf den Dingen, die schlecht laufen, sondern auf denjenigen, die Licht ins Leben bringen. Man blickt auf die Woche zurück und darauf, was man alles erreicht hat. Ob man morgens aufgestanden ist, sich einen Wochenplan gemacht und Dinge unternommen hat, die einem gut getan haben. Das sind alles kleine Schritte auf dem Weg, den Blick in eine andere Richtung zu lenken. Als Peer mache ich aber auch Einzelbegleitungen, arbeite mit Angehörigen oder bin beispielsweise für die Perspektive Thurgau im Einsatz, um Arbeitgeber für das Thema zu sensibilisieren. Des Weiteren informiere ich Schülerinnen und Schüler über die Krankheit. 

Wie macht sich eine Depression bemerkbar? 

Man macht die Dinge, die einem gut tun, nicht mehr. Viele leiden unter Schlaf- und Appetitlosigkeit. Ich habe mich sozial zurückgezogen, mich eingeigelt und Termine nicht mehr wahrgenommen. Man hat Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, schämt sich, wenn man schon wieder nicht zur Arbeit kommen kann. Ständig hängt man seinen schlechten Gedanken nach und kann nicht mehr abschalten. Alles ist schwarz und schwer, man kommt nicht aus dem Bett, ist lustlos, fühlt sich traurig und ohnmächtig. Jeder Mensch ist anders, weshalb jeder andere Auslöser und Symptome kennt. Die Gemeinsamkeit liegt aber in der Abwärtsspirale, bei der eines zum anderen führt und man sukzessive die Treppe nach unten steigt. 

Was war bei Ihnen der Auslöser? 

Da kam vieles über längere Zeit zusammen. Ein spezielles familiäres Umfeld als Kind, ein Umzug von Vorarlberg in die Schweiz, daraus resultierende Eingewöhnungsprobleme und wenig Freunde. Mit meinem Lehrmeister hatte ich grosse Meinungsverschiedenheiten, bekam mit 18 Jahren Magen- und Schlafprobleme, nahm das erste Mal Psychopharmaka und schaffte so meinen Lehrabschluss als Laborant. Ich sattelte später auf Informatik um und hatte über all diese Zeit grosse private und berufliche Erfolge. Doch nach zwei Hirnhautentzündungen konnte ich mich nicht mehr richtig konzentrieren. Damit ich meinen Status Quo trotzdem erhalten konnte, nahm ich die Arbeit mit nach Hause, konnte nicht mehr abschalten, trank darum viel und schlief wenig. So bin ich geradewegs in eine Depression gerutscht. Danach konnte ich beruflich nicht mehr richtig Fuss fassen, auch nicht mit einer Umschulung zum Schreiner. Während meines letzten fünfmonatigen stationären Aufenthalts und anschliessender tagesklinischer Unterstützung wollte ich mir bewusst Zeit nehmen, um mir zu überlegen, wohin meine weitere Reise gehen soll. 

Was ist Ihnen heute wichtig?

Neben der Spiritualität, die Verbundenheit mit meinen Mitmenschen, die Familie, meine Kinder und Enkelkinder, also die menschlichen Aspekte des Lebens. Ich akzeptiere, dass ich nicht alles in der Hand habe und ich ein Teil von allem bin. Die Krankheit war mein Stoppschild, das mir geholfen hat innezuhalten und einen neuen, wertvolleren Weg zu beschreiten. Für mich ist es wichtig, zu wissen, dass ich gelenkt, geführt und beschützt werde. Das gibt mir Halt und Kraft. Auch die Natur ist eine wichtige Stütze für mich. Ich setze mich jeden Morgen hin und schaue, was heute da ist an Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen. Ich bete für Unterstützung und Begleitung und bedanke mich auch, wenn ein Tag gut gelungen ist. Ich höre heute verstärkt auf meinen Körper, nehme meine Grenzen anders wahr und hole mir rechtzeitig Hilfe, wenn ich sie benötige. Genesung ist ein Prozess und ich bin glücklich, auf diesem Weg zu sein. 

Sarah Stutte 



Nachmittagsgruppe Depression, Auskunft und Anmeldung: Selbsthilfe Thurgau, Freiestrasse 10, Weinfelden, www.selbsthilfe-tg.ch 



*Peer-Arbeit 

Die Recovery-Bewegung (deutsch: Genesung), die Anfang der 90er-Jahre in den USA begründet wurde und danach ihren Weg nach Europa fand, bildet die Grundlage für die Peer-Arbeit im psychiatrischen Feld. Die Idee ist dabei, dass ehemalige Betroffene mit ihren persönlichen Erfahrungen andere Betroffene auf ihrem Genesungsweg unterstützen können. Inhalt der zweigliedrigen Ausbildung ist die Reflektion der eigenen Erfahrungen und, darauf aufbauend, ein Expertenwissen zu erarbeiten. Mit diesem bringen sich Peers als MitarbeiterInnen in psychosozialen und psychiatrischen Diensten, als DozentInnen, als BetroffenenvertreterInnen in Arbeitsgruppen, in der Anti-Stigma-Arbeit bis hin zur Organisationsentwicklung ein. In der Schweiz bietet der Verein EX-IN Bern und die Stiftung Pro Mente Sana Peer-Weiterbildungen an verschiedenen Standorten an.


 

Mario Sonderegger leitet eine neue Selbsthilfegruppe für Depressive in Weinfelden.

Bild: Sarah Stutte

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