Die Erfahrung von «Auferstehung» mitten im Leben

Wunibald Müller begleitete als Psychotherapeut und Seelsorger schon viele Menschen durch existenzielle Krisen. Nach seiner Pensionierung geriet er selbst in eine Depression, fühlte sich von Gott verlassen. In seinem Buch «Warten auf G.» (s. Buchtipp Seite 14) beschreibt er offen, wie er diese Krise durchlebt hat. forumKirche fragte den Theologen, wie sich für ihn in diesem erschütternden Erlebnis «Karfreitag» und «Ostern» widerspiegeln. 

Ihr Leidensweg begann damit, dass Sie Zweifel an der Existenz Gottes zuliessen…

Ich hatte beschlossen, für zwei Wochen nach Tabgha, Israel, zu gehen und dort in der Nähe des Benediktinerklosters in einem kleinen Pumphaus direkt neben dem See Genezareth zu leben. Ich nahm am Chorgebet der Mönche teil. Irgendwann – ich weiss nicht welcher Teufel mich da geritten hat oder welcher Engel mich besucht hat – dachte ich mir: «Ich will versuchen, wie es mir ergeht, wenn ich nicht mehr davon ausgehe, dass es Gott gibt.»
Bisher bin ich immer davon ausgegangen. Mich mit Gott in Verbindung zu setzen, war zu einem selbstverständlichen Teil meines Lebens geworden. Auf der anderen Seite habe ich mich als Psychologe und Theologe auch mit anderen Menschen auseinandergesetzt, die die Existenz Gottes bezweifeln, z. B. mit dem Psychoanalytiker Irvin D. Yalom, der mir sehr viel bedeutet. Es hat mich «gejuckt», dass solche Leute, die mich sonst überzeugen, an der Existenz Gottes zweifeln und dies auch aushalten. 

Was entwickelte sich aus dieser Entscheidung?

Ich habe nach wie vor am Chorgebet der Mönche teilgenommen, bin aber beim Beten der Psalmen nicht so reingegangen in die Beziehung zu Gott wie sonst. Es zeigten sich Entzugserscheinungen, es hat mir etwas gefehlt. Auf der anderen Seite habe ich mich immer wieder dabei erwischt, mich nicht an meinen Vorsatz zu halten und mit Beten anzufangen. Mit der Zeit konnte ich aber einfach warten und merkte, dass ich dieses Warten auch aushalten konnte – mal mehr mal weniger. Ich war offen und bereit dafür, Gott – wenn er sich meldet – bei mir einzulassen.
Ich bin oft an einem Ort bei Tabgha gewesen, von dem man sagt, dass es der Lieblingsort Jesu hätte sein können, wo er vielleicht auf den See geschaut hatte. Dort stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn Jesus mich besuchen würde, wie ich ihm begegnen würde, was ich mit ihm reden würde. Oder dass draussen ein Sturm wäre, Jesus über das Wasser laufen und mir signalisieren würde, dass ich auch kommen solle. Ich spürte, wie diese Vorstellung mir Angst machte. 
Mir wurde auch klar, dass ich normalerweise einen Aufenthalt am See Genezareth mit Exerzitien verbinde, in denen ich meine Beziehung zu Gott und Jesus vertiefen möchte. Ich dachte, das ist einmal eine andere Form von Exerzitien, wo ich versuche auszuhalten, mich nicht mit neuen Erfahrungen mit Gott zu füllen. 
Es ging so hin und her. Mal ist mir meine Entscheidung schwerer, mal leichter gefallen. Schliesslich war es so: Ich sass am See, hörte den Vögeln zu und es war einfach gut.

Und die Frage nach Gott? Haben Sie diese in Tabgha zurückgelassen?

Ich bin unentschieden weggegangen, aber mit dem Wissen, dass die Frage nach Gott nicht mehr vordergründig da war. Ich nahm eine innere Gewissheit wahr – etwas, was ich von früher her schon kannte. Ich spürte, dass das, was mich immer wieder zu Gott ausstrecken lässt, nicht nur etwas Aufgesetztes, Anerzogenes ist, sondern dass es abgedeckt ist durch etwas Tiefes in mir. In Kohelet heisst es sinngemäss: «Gott hat uns diese Sehnsucht nach der Ewigkeit eingepflanzt.» Da gibt es also etwas in mir, was mich nach Gott suchen lässt. Dann muss ich das ernst nehmen, auch gegen alle intellektuelle Vorbehalte, gegen all das, was Menschen wie Yalom sagen. Ich darf deren Erfahrung wertschätzen, aber ich erlebe etwas Anderes. So habe ich Tabgha verlassen. 

Das war aber nicht das Ende Ihres Weges?

Nein. Kurz darauf hatte ich Probleme mit dem Sehen. Ursache war eine Netzhautablösung, die wieder behoben werden konnte. Danach hatte ich Probleme mit dem Atmen. Ich musste mich einer Bypass-Operation unterziehen. Nach diesem Eingriff konnte ich nicht mehr schlafen. Irgendwann hat es mich zusammengehauen wie noch nie, so dass ich körperlich und seelisch am Boden lag. Ich hatte das Gefühl, dass ich von Gott und der Welt verlassen und nichts mehr wert bin, habe das, was ich in meinem Leben geleistet habe, abgewertet, hatte Schuldgefühle. Ich bin durch die Hölle gegangen.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Von meinem Hintergrund her als Psychologe und Theologe konnte ich zum einen eine handfeste Depression ausmachen, zugleich aber auch eine Dunkle-Nacht-Erfahrung. Ich holte mir Hilfe bei einem Psychotherapeuten, in Form von geistlicher Begleitung und durch die Einnahme von Medikamenten. Wichtig war auch die Unterstützung von Freunden und vor allem von meiner Frau, die ganz entscheidend dazu beigetragen hat, dass ich diese schwierige Phase durchstehen konnte. 

Wie lange ging diese Phase?

Sie zog sich über Monate, mal mehr mal weniger stark ausgeprägt, bis sie sich langsam verzog. Ich habe gemerkt, wie wieder Farbe in mein Leben kam, wie ich zuversichtlicher wurde, in gewisser Weise wieder der Alte wurde, der Lust hatte am Schreiben, an Gesprächen und an Unternehmungen.

Sie beschreiben diese Krise als «tiefes Dunkel der Nacht». Das erinnert an das, was Jesus in seiner Passion erlebt hat…

Ja, die Passion Jesu ist für mich noch einmal mehr zu Fleisch geworden. Die Angst, die Jesus am Ölberg erlebt hat, als er in Berührung kam mit dem, was ihm noch bevorsteht, hat für mich eine ganz existenzielle Dimension bekommen. 
Auch in den Gottesknechtsliedern, die in der Passionszeit eine grosse Rolle spielen, habe ich mich oft wiedergefunden, als ich selbst Vernichtung und Heruntermachen meiner Person erfahren habe. Da ist ja die Rede von dem, der von allen verachtet wird, der nichts mehr Schönes hat an seinem Leib. 

Wie erlebten Sie dann «Auferstehung»?

Die Auferstehung hat sich eher wie ein leises Singen der Seele angekündigt. Es war kein «Halleluja, Jesus lebt», in das ich an Ostern jubelnd einstimmen kann. Dieses Triumphale habe ich nicht erlebt, sondern eher ein Aufwachen, ein frohes Gestimmtsein, ein langsames Auferstehen. Aber ein Auferstehen, das mit Freude einherging – am Anfang leise, dann auch lauter. 

Sind Sie im Nachhinein «froh», dass Sie diese Krise durchlebt haben?

Im Nachhinein kann ich sagen: Es war wichtig, diese Erfahrung gemacht zu haben, weil sie mich auf den Boden gebracht hat. Sie half mir, mich von einem Bild von mir zu verabschieden, einer Illusion, der ich zum Opfer gefallen bin. Denn ich habe mich in den letzten 50 Jahren meines Lebens als jemanden empfunden, der von Gott geküsst worden war, den er besonders mag. Diese narzisstische Seite erfuhr eine Korrektur, was für mich sehr schmerzvoll war. Von daher war ich «froh» in dem Sinne, dass es mich in meiner Menschwerdung weitergebracht hat.

Was hat sich noch in Ihrem Leben verändert?

Ich bin mehr darauf hingeleitet worden, für andere da zu sein. Nicht dass ich mich vernachlässige, aber dass es mir auch wichtig ist, andere einzubeziehen.
Ich bin demütiger geworden, indem ich mich mit weniger zufriedengebe, indem mir es nicht mehr so wichtig ist, wie andere mich sehen. Ich spüre auch, dass ich die kleinen Dinge mehr würdigen kann, dankbar bin und eine Ahnung davon bekommen habe, was Leben in Fülle meint, nämlich nicht, mehr zu haben, sondern das auskosten zu können, was gerade ist. 
Ab und zu holt mich der alte Wunibald wieder ein. Ich bin durch diese Erfahrung nicht davor gefeit, dass es wieder dunkle Nächte gibt, aber nicht in dieser starken Ausprägung.

Braucht es in jedem Leben «Karfreitag», um «Ostern» zu erleben?

Ja. Als Psychologe war es mir immer schon wichtig, dass der Auferstehung der Karfreitag vorausgeht. Es wurde mir deutlich, dass dies auch theologisch so ist. Wo Altes verabschiedet werden muss, damit Neues zum Durchbruch kommen kann, braucht es den Karfreitag. Nikos Kazantzakis hat einmal sinngemäss in einem seiner Romane gesagt: «Jeder muss sein Kreuz auf sich nehmen, sein Golgota besteigen, um auferstehen zu können» – Und er fügte hinzu: «Die meisten» - was ich gut verstehen kann - «bleiben auf dem halben Weg stehen.» Mit dem Ergebnis, dass sie Auferstehung nicht erleben. Wir haben nie eine Garantie, dass wir den Karfreitag gut überstehen.

In dieser dunklen Nacht hat man das Gefühl, zugrunde zu gehen…

Man denkt es ist ein Abstürzen in einen grundlosen Grund, aber man kommt mit seinem eigenen Grund in Berührung. Das kann man nur vorsichtig sagen, mit allen Vorbehalten.

Es ist nicht leicht, über eine Krise zu reden. Sie haben sogar ein Buch darüber veröffentlicht. 

Menschen wie Henri Nouwen oder Pierre Stutz haben mir mit ihrer Offenheit geholfen, zu meinen Erfahrungen zu stehen. Das ist nicht ganz leicht, vor allem anderen gegenüber. Mit der Zeit konnte ich darüber schreiben, ohne Angst zu haben, dass andere auf mich herabschauen und denken mögen: «Der ist durch eine Depression gegangen, wie belastungsfähig ist der denn?» Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Der, der ich heute bin, bin ich auch dank dieser Erfahrung der Depression. 
Ich habe es zudem als meine Aufgabe gesehen, anderen Mut zu machen, sich auf einen solchen Weg einzulassen, dazu zu stehen, dass es die dunkle, traurige Seite in ihrem Leben gibt und dass sie auch zu etwas Gutem führen kann, wenn man sie annimmt. Ich habe noch nie so viele Rückmeldungen auf ein Buch bekommen wie auf dieses. Viele haben sich darin wiedergefunden. 

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 29.3.21


Zur Person

Wunibald Müller (70) ist katholischer Theologe und psychologischer Psychotherapeut. Er leitete von 1991 bis 2016 das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach (D), eine von acht Diözesen getragene Einrichtung, die kirchliche Mitarbeiter*innen die Möglichkeit gibt, sich körperlich, psychisch und geistlich-spirituell zu sammeln. Er ist Autor psychologischer und spiritueller Bücher, hält Vorträge und bietet bis heute psychologische und geistliche Begleitung an.

Krisen werden oft als dunkle Nacht erlebt.
Quelle: pixabay.com
Krisen werden oft als dunkle Nacht erlebt

 

 

 

Wo Altes losgelassen wird, kann Neues wachsen.
Quelle: pixabay.com
Wo Altes losgelassen wird, kann Neues wachsen.

 

 

 

Dr. Wunibald Müller
Quelle: zVg
Dr. Wunibald Müller

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