« Día de los Muertos » in Lateinamerika

Während wir bei uns am 1. November Allerheiligen feiern, wird in Lateinamerika vor allem Allerseelen am 2. November begangen. In Lateinamerika wird der Toten gedacht und gleichzeitig das Leben gefeiert. Familien treffen sich auf Friedhöfen, spielen Musik, essen zusammen und erinnern sich an die glücklichen Zeiten ihrer Verstorbenen.

Als Kind fand ich Friedhöfe immer unheim­lich. In El Salvador, wo ich herkomme, wirken sie oft düster : verwelkte Blumen, die langsam zu Staub zerfallen, Gräber, die so dicht aneinander stehen, dass man kaum hindurchgehen kann, ohne eines zu berühren, und Grabsteine, deren Inschrif­ten fast unlesbar sind. Nach dem Tod meines Grossvaters beschlos­sen meine Eltern, mich und meine Geschwis­ter zu unserem ersten « Día de los Muertos », dem Tag der Toten, auf den Fried­hof mitzu­nehmen. Ich erinnere mich genau daran : Schon auf dem Weg fuhren wir mit dem Bus an den Blumen­ständen vorbei. Die Farben waren unglaub­lich lebendig – knalliges Fuchsia, elektrisierendes Blau und strahlendes Gelb. Überall auf der Strasse gab es Stände mit frischen Blumen, deren Duft man von Weitem wahr­nahm, daneben verkauften Händler künst­liche Blumen aus Plastik, Papier oder Stroh.

Noch nie zuvor hatte ich so viele Menschen auf einem Friedhof gesehen. Familien trugen « Canastos », farbige Tragtaschen, voller Essen und Dekorationen mit. Mariachi-Bands spielten traditionelle Musik mit Gitarren, Geigen und Trompeten zwischen den Grabsteinen. Es gab « Hojuelas » – knusprige Snacks – und bunte Dekorationen zu kaufen, und Kinder halfen, Gräber zu säubern oder zu bemalen. Der Friedhof war voller Leben. Als wir das Grab meines Gross­vaters erreichten, waren meine Grossmutter, Tanten, Onkel und alle Cousins bereits da. Jeder hatte eine Aufgabe : Einige schabten die abgeblätterte Farbe vom Grabstein, andere zupften das trockene Gras, und die Jüngsten bastelten bunte Blumen aus Plastiktüten. Meine Mutter und Tanten verteilten das Essen gerecht, damit es für alle reichte. Ich bekam die Aufgabe, die Buchstaben auf dem Grabstein mit schwarzer Farbe nachzuziehen.

An diesem Tag fühlte ich zum ersten Mal Freude auf einem Friedhof. Plötzlich wirkte dieser nicht mehr düster, sondern als ein Ort des Zusammenkommens, voller Fröhlich­keit und Familiennähe. Seit dem Tod meines Gross­vaters hatte ich mich ihm nicht mehr so nah gefühlt. Es war, als wäre er bei uns, als würde er mit uns « Tamales » (gefüllte Teigtaschen) essen und die Lieder aus einem kleinen Radio mitsummen, das mein Onkel mitgebracht hatte.

Unsere Art, uns zu erinnern : Tag der Toten
In unserer lateinamerikanischen Tradition widmen wir unseren Verstorbenen zwei besondere Tage: Am 1. November erinnern wir uns liebevoll an die Kinder, die viel zu früh von uns gehen mussten – unsere « Engelchen » oder « kleinen Verstorbenen ». Tags darauf füllen wir die Altäre in unseren Häusern, um unserer verstorbenen Erwachsenen zu gedenken.

Obwohl besonders Mexiko für den « Día de los Muertos » bekannt ist, feiern wir dieses Fest überall in Lateinamerika mit unseren eigenen, einzigartigen Akzenten. Unsere Wurzeln reichen tief zurück in die indigenen Kulturen Mesoamerikas. Dort ehrten wir unsere Ahnen schon immer mit bunten Altären, geschmückt mit Blumen, Speisen und persönlichen Gegenständen. Als die spanischen Eroberer kamen, verschmolzen diese jahrhundertealten Bräuche mit den christlichen Festen Allerheiligen und Allerseelen. So entstand unsere Tradition : eine wunderschöne Mischung, welche die indigene Spiritualität und den christlichen Glauben vereint.

Altäre für unsere Verstorbenen
Obwohl jedes Land in Lateinamerika den « Día de los Muertos » auf eigene Weise feiert, gibt es ein Element, das uns alle vereint : die Altäre. Wir errichten sie zu Hause oder direkt auf den Gräbern. Darauf legen wir Fotos, Kerzen, die Lieblings­speisen und persönliche Gegen­stände des Ver­storbenen. Ob es das « Pan de Muerto » in Mexiko ist oder die kleinen « Tanta Wawa », Brote in Bolivien – Essen ist immer essenziell. Unverzichtbar sind auch die Blumen. Sie dienen nicht nur der Dekoration, sondern erfüllen eine transzendente Aufgabe. Wir glauben, dass ihre leuchtenden Farben und intensiven Düfte unseren Liebsten den Weg zurück in unsere Welt leuchten, damit sie uns während dieses Festes besuchen können. Bei uns in Lateinamerika, beson­ders in Ländern wie meiner Heimat El Salvador, verwandeln sich die Friedhöfe am « Día de los Muertos » in lebendige, gemein­schaftliche Räume.

Gemeinsam feiern, gemeinsam erinnern
In vielen lateinamerikanischen Dörfern füllen Prozessionen, Märkte, Tänze und Festivals die Strassen mit Farbe und Musik. Ob es die Umzüge mit riesigen Catrinas (siehe rechte Spalte) in Mexiko sind, das Aufsteigenlassen grosser Drachen in Guatemala oder das gemeinsame Teilen von Brot, Musik und Gebeten auf Friedhöfen in Bolivien und Peru : Die Grenze zwischen Feier und Spiritualität verschwimmt.

Für uns ist der Kern der Sache die Erinner­ung an unsere Liebsten, was keine einsame Aufgabe ist, sondern ein geteiltes, kostbares Erbe. Wenn wir uns alle gemein­sam erinnern, spüren wir, wie stark unsere kulturelle Identität ist. Es ist ein wunder­schöner Weg, Generationen zu verbinden und den Schmerz, den wir durch Verlust empfinden, in eine echte Feier des Lebens zu verwandeln – ein Leben, das durch uns weiterlebt.

Karla Ramírez, forumKirche, 27.10.2025


Kein Halloween

Obwohl der « Día de los Muertos » zeit­lich mit Halloween zusammenfällt, unter­scheiden sich die Bedeutungen stark. Statt das Dunkle zu betonen, stellt das lateinamerikanische Fest die Erinnerung, Zuneigung und die Freude am symbolischen Wiedersehen in den Vordergrund. Im Kern ist es eine Hommage an das Leben durch den Tod.
Für die Süd- und Mittelamerikaner verwan­delt der Tod die Beziehung zu den Liebsten nur, er beendet sie nicht. Jeder Altar, jede Blume und jedes geteilte Gericht ist ein Akt der Liebe, der dem Vergessen trotzt. Der Tod ist in dieser Tradition keine Mauer, sondern eine Brücke. Sie verbindet die Lebenden mit jenen, die vorausgegangen sind, und zeigt : Erinnern ist die schönste Art, das Leben lebendig zu halten.

Symbol des « Día de los Muertos »
Die Catrina ist eines der bekanntesten Symbole des « Día de los Muertos ». Sie wurde 1912 vom mexikanischen Illustrator José Guadalupe Posada geschaffen, der sie ursprünglich « La Calavera Garbancera » nannte. Jahre später taufte der Wandmaler Diego Rivera sie in « La Catrina » um. Mit ihrem eleganten Hut und satirischen Ausdruck entstand die Catrina als soziale Kritik : Sie stellte den Tod der Demokratie dar und verspottete die Eliten, die ihre Wurzeln verleugneten. Heute erinnert uns diese Figur daran, dass der Tod unser aller gemeinsames Schicksal ist. Er macht uns alle gleich, jenseits von Klassen oder Stand. In Lateinamerika ist sie ein fester Bestandteil des Festes geworden.

Karla Ramírez


Weltkulturerbe

Die UNESCO erklärte das mexikanische Fest « Día de los Muertos » 2003 zum « Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Kulturerbes der Menschheit »

Umzug mit Catrina, einer Figur des « Día de los Muertos », in Mexiko
Quelle: Orus Villacorta
« Día de los Muertos » in Lateinamerika – fröhlicher Umzug zum Friedhof in San Juan Teotihuacán (Mexiko) mit Catrinas
​​​​​​
Mariachi-Band am Grab
Quelle: Gobierno Cholula
Mariachis begleiten das Fest.

 

Familie schmückt ein Grab am « Día de los Muertos »
Quelle: Orus Villacorta
Die Familien besuchen die Friedhöfe und schmücken die Gräber mit Blumen und Dekorationen.

 

mit Erinnerungen an den Verstorbenen geschmücktes Grab, beispielsweise Uniformjacke, Gewehr
Quelle: Gabriel Flores Romero
Gaben, Fotos und Blumen auf einem Altar

 

 

Original-Illustration der Catrina von José Guadalupe Posada
Quelle: WikiCom
Original-Illustration der Catrina von José Guadalupe Posada

Kommentare

+

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.