Eine Zen-Meisterin über die Kunst der Meditation

Der Advent führt zur inneren Ruhe, heisst es. Wenn es draussen dunkel wird, gewinnt die Stille an Bedeutung. Doch obwohl die Sehnsucht nach ihr gross ist, haben viele Menschen gleichzeitig Angst vor ihr. Weil es schwer sei, sie auszuhalten, sagt die Schweizer Psychologin und Zen-Meisterin Anna Gamma. Wieviel man trotzdem durch sie gewinnt und warum man sie wie ein Instrument zum Klingen bringen muss, erzählt Anna Gamma im Interview.

Worin liegen die Unterschiede zwischen Spiritualität und Religion in Bezug auf die Stille?

Spiritualität gehört ganz grundsätzlich zu jedem Menschen. Die Religion fungiert als institutionelle Dachorganisation und Hüterin der Botschaft der Gründer. Will sie lebendig bleiben, benötigt sie die Verbindung zur Spiritualität, die den Kern ihrer Botschaft für Gläubige erfahrbar macht. Die Stille wiederum öffnet uns für die spirituelle Dimension. Sie ist eine universelle, interkulturelle Sprache, die man überall findet, wenn man ein offenes Herzensohr für sie hat.

Viele Menschen sehnen sich nach Stille, können aber diese Sehnsucht nicht umsetzen. Warum nicht?

So sehr man sich nach Stille sehnt, so schwierig ist es, denn in der Stille begegnet man erst einmal seinen eigenen Schattenseiten. Diesen weichen wir spontan lieber aus, als dass wir sie anerkennen und in unsere Persönlichkeit integrieren.

In welchen Situationen suchen Sie die Stille?

Ich praktiziere schon seit vierzig Jahren die Zen-Meditation und gehe den Weg der Stille in der christlichen Tradition. Ich beginne den Tag mit Stille und schliesse ihn damit ab. Ich suche die Stille auch dann, wenn mich etwas sehr beschäftigt und mir das Nachdenken darüber alleine keine Klarheit verschafft. Ich setzte mich auf mein Meditationskissen und versuche, das Denken loszulassen und einfach achtsam zu atmen. Der Atem ist ein unglaublicher, geheimnisvoller Lehrmeister. Es kann sein, dass sich dadurch relativ schnell eine Frage von innen heraus, eben von einer ganz anderen Ebene, klärt. Wenn ich missmutig bin, gehe ich gerne laufen. In der Bewegung werde ich nach und nach ruhiger und geniessbarer für mich und die andern.

Wie begegnen Sie der Einsamkeit?

Ich unterscheide zwischen einsam und allein. Ich wohne zwar in einer Wohngemeinschaft, doch ich liebe das Alleinsein. Einsamkeit hat für mich dagegen eher einen depressiven Touch. Vor vierzig Jahren durchlebte ich eine Phase, in der ich schwer depressiv war. In der dunkelsten Nacht wurde mir eine tiefe Gotteserfahrung geschenkt, die mich ins Leben zurückrief. Einsamkeit im Sinne von sich unverbunden und ungeliebt fühlen, kenne ich seitdem fast nicht mehr.

Braucht es eine bestimmte Form, um still zu werden? Was hilft Ihnen dabei?

Zu dieser Frage gibt es einen eindrücklichen Text von Meister Eckhart (Theologe und Philosoph des Spätmittelalters, Anm. d. Red.). Er schrieb: «Ich will sitzen und will schweigen und will hören, was Gott in mir rede». Die äussere Ruhe des Körpers hilft in den grenzenlosen Raum der Stille einzutauchen. Für mich ist das Sitzen aus der Zen-Buddhistischen Tradition eine sehr gute Form.

Benötigt man dafür eine absolut ruhige Umgebung?

Ja und nein. Es gibt Räume, die helfen, die Stille zu erfahren. Da sie nicht an einen Ort gebunden ist, kann sie auch in der Hektik einer Rushhour unmittelbar wahrgenommen werden. Ich bin privilegiert, weil in unserer WG alle meditieren. Im gleichen Gebäude führen wir ein Zen Zentrum mit einem schlichten Meditationsraum. Dort finden wir uns täglich ein. Die Stille kommt nicht zu einem. Man muss sie nur hören. Sie ist sozusagen der Grundton, der durch das ganze Universum schwingt. Als Jugendliche sass ich oft in leeren Kirchen. Die Stille in diesen geweihten Räumen zog mich an. Kirchen sind erfüllt vom Gebet der Menschen, die dort ihre Beziehung zur Gottheit pflegen.

Was passiert mit uns, wenn wir still werden?

Am Anfang ist es in meinem Kopf oft gar nicht still, es redet und überlegt. Denken ist eine der Funktionen des Gehirns. Ich kann aber das Gehirn arbeiten lassen und gleichzeitig geistig an einem anderen Ort sein. Es braucht oft jahrelanges Üben, bis dieser leere Bewusstseinsraum zugänglich wird und sich stabilisiert. Neben der geistigen Freiheit und Klarheit, hat die Meditation auch körperliche und psychische Wirkungen. Sie versetzt uns in einen tiefen Entspannungszustand, der heilsam ist wie ein Jungbrunnen. Es findet auch ein psychischer Reinigungsprozess statt. Man wird barmherziger und geduldiger gegenüber sich selbst und gegenüber anderen Menschen.

Alleinsein und Stille zu erleben, kann auch eine Herausforderung sein. Gab es Momente, in denen Ihnen das schwergefallen ist?

Ja, das gab es gelegentlich. Ich habe nicht nur Stille praktiziert, sondern in meinem Leben auch immer wieder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen. Die Stille ist dann am Schwierigsten auszuhalten, wenn man sich in den Beziehungen zu anderen Menschen abgeschnitten fühlt. Ängste und Panikattacken können sich in solchen Situationen einstellen.

Braucht es Begleitung, wenn man regelmässig die Stille sucht?

Ja, es ist ratsam den Weg nicht alleine zu gehen. Der Weltinnenraum ist weiter und tiefer als der Weltaussenraum. Heinrich Seuse (mittelalterlicher Mystiker und Dominikaner, der in Konstanz und in der Schweiz wirkte, Anm. d. Red.) sagt: «Ein gelassener Mensch sollte alle seine Seelenkräfte so zähmen, dass, wenn er in sich hineinschaut, sich ihm da das All zeigt». Auch im physischen Universum gibt es schwarze Löcher. Wenn man diesen im Weltinnenraum begegnet, ist es ratsam, sich begleiten zu lassen.

Wird man durch das Still-Sein zu einem anderen Menschen?

Da sage ich entschieden nein. Stille nimmt uns weg, was nicht wesentlich zu uns gehört. Man wird zu dem Menschen, der man ist. Stille lässt die einzigartige Persönlichkeit nach und nach durchscheinen. Wir sind immer weniger identifiziert mit den Rollen, die wir im täglichen Leben für den Beruf und unser öffentliches Leben entwickelt haben.

Warum ist Stille wichtig für die heutige Zeit?

Fast täglich nimmt Komplexität zu und damit auch Beschleunigung. Viele Menschen verlieren dabei den Kontakt zu ihrer inneren Mitte, verlieren sich dadurch in der Aussenwelt. Sie werden immer mehr fremdbestimmt. Das macht unglücklich und unzufrieden. Die Stille führt uns zu uns nach Hause. Sie ist eine kostbare Medizin für die heutige Zeit. Interview: Sarah Stutte (19.11.19)


Dr. Anna Gamma, 69, studierte Psychologie, Philosophie und ist Zen-Meisterin. Sie leitete viele Jahre das Lassalle-Institut für Führungskräfte. Heute führt sie ihr eigenes Institut im Bereich Zen&Leadership und Spirituelles Coaching. Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen gibt Anna Gamma in Vorträgen, Seminaren und in mehreren Büchern weiter. www.annagamma.ch und www.zenzentrum-offenerkreis


 

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Anna Gamma erhielt 2003 die offizielle Zen-Lehrbefugnis (Sensei). 2012 wurde sie zur Zen-Meisterin (Roshi) autorisiert.

Bild: zVg

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